erstaunt und erschrocken

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Sham
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erstaunt und erschrocken

Beitrag von Sham »

Hallo,

ich weiß nicht richtig wo ich anfangen soll. Seit einiger Zeit mache ich eine Therapie, die mir bisher gut bekam. Vor drei Wochen sagte meine Therapeutin, dass sie gern etwas mehr über mein Leben erfahren möchte. Ich wusste, dass das Thema meiner Kindheit kompliziert sein wird. Vor zwei Wochen ergab es sich so, dass erst einmal andere Dinge wichtiger waren und ich erst einmal Aufschub hatte. Verschoben ist ja leider nicht aufgehoben.
Das Gespräch über meine Kindheit habe ich mir etliche Male im Kopf durchgehen lassen, wie ich erzähle, was ich erzähle und wie ich das einigermaßen strukturieren könnte.

Nun, letzte Woche war es soweit. Es fing auch ganz normal an, doch irgendwann mitten im Gespräch überkam es mich dann. Ich war dermaßen innerlich aufgewühlt, konnte kaum noch ganze Sätze sprechen und habe so geheult und trotzdem versucht weiter zu erzählen. Dabei habe ich viele Details ausgelassen, weil ich nur noch den Drang spürte, dass ich da jetzt möglichst schnell durch muss.

Meine Therapeutin war, wie es mir schien ziemlich erschrocken. Sie sagte, wenn sie das geahnt hätte, hätten wir das Thema erst später behandelt. Sie fragte auch mehrmals, ob wir abbrechen sollen. Doch ich wollte dass möglichst schnell hinter mich bringen. Der größte Teil liegt leider immer noch vor mir.

Ich hatte geglaubt, dass ich das alles in einer Stunde erzählen kann und war dann über die Heftigkeit meiner Reaktion selbst sehr erstaunt und auch erschrocken.
Das Ganze liegt doch schon 30 Jahre zurück!! Danach habe ich ein meiner Meinung nach völlig normales Leben geführt. Und nun ist das alles wieder augebrochen, als wenn es gestern passiert wäre.

Vielleicht hätte ich das nicht erzählen sollen, mir ist das so unangenehm und so unglaublich peinlich. Andererseits wurden mir im Nachhinein fast schlagartig Zusammenhänge zu meinem jetztigen Leben bewusst. Vorausseilender Gehorsam, Perfektionismus, Fehlervermeidungsstrategie, Konfliktscheu, nur keine Angriffsfläche bieten und und und, wenn Dinge passieren, die ich nicht beeinflussen kann, habe ich immer das Gefühl, das mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird.

Ich habe mich immer angestrengt, weil ich gut sein wollte. Irgendwann hat mein Chef mal zu mir gesagt, dass ich lernen muss, mir selbst zu verzeihen. Damals dachte ich, was ist denn das für ein Quatsch. Jetzt ist mir schlagartig bewusst geworden wie recht er damals hatte. Ich habe immer nur meine Fehler und meine Schwächen gesehen, dabei habe ich nie gesehen, meine Stärken habe ich immer relativiert und als Zufälle abgetan.

So eine Scheiße, wie kann man eigentlich 53 Jahre so blind durchs Leben laufen und sich selbst quälen??

Was auch noch komisch ist, als meine Krankheit diagnostiziert wurde und ich mich über die Krankheit informiert habe und ich solche Sachen las wie: Selbstentwertung habe ich noch geglaubt, dass mich das nun überhaupt nicht betrifft. Das ist alles so widersprüchlich und doch wahr.

Tut mir leid, ich musste das alles mal loswerden. Ich habe das Gefühl ich bin am Platzen und halte das sonst bis zu meiner nächsten Therapiestunde nicht mehr aus.

Lg
Sham
Glück ist, nicht mehr zu wollen als man kann und nicht zu müssen, was man nicht will.
uff
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Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von uff »

Hy Sham!
Du hast doch durch diese Stunde schon unheimlich viel erreicht,wieviel Dir klargeworden ist......es muß Dir überhaupt nicht peinlich sein,dazu gehst Du doch zur Therapie!!!!
Mir geht es ganz genauso!!!!!!!!!!Die gleichen Gefühle und Gedanken (wie kann das noch so weh tun,nach 35 Jahren??????)warum breche ich jetzt erst zusammen?????????
Wir sind jetzt auf der Weg der Besserung,glaube mir!Der Schmerz gehört dazu,da bin ich sicher!
Alles Gute
tt
Blaumeise-umk
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Registriert: 2. Dez 2009, 20:31

Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Blaumeise-umk »

Guten Abend Sham und töfftöff,

als ich eben Eure Beiträge gelesen habe, habe ich mich in Euren Worten total wiedergefunden....
Sham, Du schreibst u.a. "Andererseits wurden mir im Nachhinein fast schlagartig Zusammenhänge zu meinem jetzigen Leben bewusst. Vorausseilender Gehorsam, Perfektionismus, Fehlervermeidungsstrategie, Konfliktscheu, nur keine Angriffsfläche bieten und und und, wenn Dinge passieren, die ich nicht beeinflussen kann, habe ich immer das Gefühl, das mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird." - Ganz genauso geht es mir auch! Fehler zu machen ist für mich der Horror und ich fühle mich dann immer so unglaublich schlecht....

"Ich habe immer nur meine Fehler und meine Schwächen gesehen, meine Stärken habe ich immer relativiert und als Zufälle abgetan." - Das könnten absolut meine Worte sein!;)

Auch mir ist es immer ziemlich unangenehm, wenn ich mit meinem Therapeuten - schon wieder und immer noch...(?!) - über die Kindheit rede; ich denke immer, ich müßte doch langsam mal "darüber hinweg sein" und habe oft Angst, daß er langsam genervt ist, weil wir immer noch bei dem Thema hängen und ich nicht besser da "drüber stehen" kann. - Ich bin doch mittlerweile erwachsen, alles ist ca. 30 Jahre her (töfftöff ) und ich beschäftige mich immer noch so stark damit...?! Ich kriege so oft ein schlechtes Gewissen deswegen...

Kennt ihr eigentlich die Bücher von Josef Giger-Bütler? Die kann ich nur empfehlen, denn da steht auch ganz viel drin über den in der Kindheit angelernten Perfektionismus, warum Fehler so "schlimm" sind, sich selbst keinen Wert geben und nicht verzeihen können etc. Auch wenn es oft so verdammt schwer ist, zu begreifen bzw. wahrhaben zu können, daß das alles (die ganze "Scheiße" ) so arg auf einen selbst zutrifft, so sind mir die Bücher doch unheimlich wertvoll, weil die Zusammenhänge so klar und deutlich aufgezeigt werden - und zwar wohlwollend.

Gute Nacht!
Sham
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Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Sham »

Hallo Blaumeise und töfftöff,

danke für Eure lieben Zeilen. Bin so froh, dass es dieses Forum gibt. Da fühlt man sich wenigstens nicht ganz so allein mit dem ganzen Mist.

Blaumeise, hast Du mal Deinen Therapeuten gefragt, ob es ihn nervt, wenn Du immer noch von Deiner Kindheit erzählst?

Ich bin schon gespannt was meine Therapeutin am Donnerstag sagen wird. Das letzte Mal war ich zum Schluss so benebelt, ich konnte einfach nicht mehr weiter. Mein Gott, ich habe immer nur gedacht, dass mich die Arbeit so gestresst hat. Das der ganze andere Mist noch so tief in mir steckt?!

Die Bücher von Bütler kenne ich nicht, werde mich mal informieren. Habe so wie so gerade viel Zeit und bin immer dankbar für einen guten Buchtipp.

Ich wünsche Euch beiden eine gute Nacht.

Lg
Sham
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Denker
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Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Denker »

Hallo sham,
den Buchtipp von Blaumeise möchte ich gerne unterstützen. Auch für mich war Giger-Bütler ein wahnsinniges Aha-Erlebnis. Ich denke, in deiner jetzigen Situation wäre vermutlich das erste Buch "Sie haben es doch gut gemeint" das richtige.

In vielem was du schreibst, kann ich mich auch wiederfinden. Manches habe davon habe ich heute überwunden, indem ich mich meinen tw. fast 40 Jahre alten Traumata gestellt habe.
Wenn wir Dinge nicht hochkommen lassen, werden sie unser Leben immer aus der Tiefe des Unbewussten beinflussen. Wir verhalten uns in einer Weise selbstdestruktiv, die wir uns selber nicht erklären können. Wir fallen immer in die gleichen Muster zurück, obwohl uns unser Verstand genau sagt, wohin das führt...

Liebe Grüße
Denker
Sham
Beiträge: 75
Registriert: 14. Feb 2011, 11:35

Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Sham »

Hallo Denker,

danke für den Buchtipp. Ich habe mir jetzt gleich mal drei Bücher bestellt.

Lg
Sham
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Blaumeise-umk
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Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Blaumeise-umk »

Hallo Sham,

ja, ich habe dem Theraupeuten schon mal gesagt, daß ich langsam ein schlechtes Gewissen bekomme, weil ich mich bzw. wir uns in den Gesprächen immer noch soviel mit meiner Kindheit beschäftigen und habe ihn gefragt, ob das "normal" ist. Er meinte, es wäre völlig okay und ich habe im Grunde ja auch nicht den Eindruck, daß er genervt ist, aber irgendwie ist das halt meine Angst - und wahrscheinlich mein eigener Anspruch, daß ich da doch - endlich mal - "drüber stehen" müßte....

Ja, ich kann Denker nur zustimmen: die Bücher von Herrn Giger-Bütler erzeugen sehr viele "Aha-Erlebnisse", die für mich immer wieder wertvoll sind. In den ersten 2 Bändern habe ich mich teilweise so sehr wiedergefunden, daß ich es kaum glauben konnte (wie kann mich jemand so derart gut kennen und das dann auch noch in einem Buch beschreiben...?! ). Auch wenn das alles oft so schwer zu akzeptieren ist, finde ich es doch hilfreich, weil man auch in den Büchern spürt, man ist bei weitem nicht der einzige Mensch, der sich mit diesen Problemen herum schlägt....

Sham, ich wünsche Dir morgen eine gute und hilfreiche Therapie-Stunde!

Euch noch einen schönen Abend,
LG
Sham
Beiträge: 75
Registriert: 14. Feb 2011, 11:35

Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Sham »

Guten Morgen Blaumeise,

ich bin so froh, Deine lieben Zeilen heute morgen gelesen zu haben. Du glaubst gar nicht, wie gut die mir getan haben.
Je näher der Termin rückte, desto mehr plagten mich Zweifel, ob ich das aus meiner Kindheit so hätte erzählen sollen. Einerseits weiß ich, dass ich nur dadurch einen Weg zu mir finden kann, andererseits plagte mich genau das schlechte Gewissen, welches man mir als Kind immer eingeredet hatte. Zum Beispiel:"Was denkt die Therapeutin darüber, dass ich über meine Mutter nicht viel Gutes erzählt habe. Man spricht über seine Eltern nicht schlecht."

Kann man aber etwas schönreden, was man so und nicht anders erlebt und gefühlt hat? Ich glaube, dass es für das Wohlbefinden einen Kindes erst einmal völlig egal ist, welche Absichten die Eltern hatten. Man sieht doch als Kind nur das Offensichtliche und nicht die Absicht, die dahinter stehen könnte.

Der Titel des Buches drückt das so gut aus.

Bin gespannt, ob ich heute etwas ruhiger bleibe.

Ich wünsche Dir noch einen schönen Tag.

Liebe Grüße
Sham
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Blaumeise-umk
Beiträge: 85
Registriert: 2. Dez 2009, 20:31

Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Blaumeise-umk »

Guten Abend Sham,

ich hoffe sehr, Du hattest heute eine gute und hilfreiche Therapiestunde?

Tja, Dein Satz "man spricht über seine Eltern nicht schlecht...", der hätte ganz genauso von mir sein können... - Jedes Mal, wenn ich dem Therapeuten etwas von früher erzähle, was mich belastet, habe ich ein schlechtes Gewissen, fühle mich schlecht, weil ich denke, das ist doch absolut unfair, ungerecht und v.a. "undankbar", wenn ich das so sage - nicht zufrieden bin mit dem, was mir meine Eltern gegeben haben....
Genau deshalb war ich auch total fasziniert, als mir das Buch von Josef Giger-Bütler mit dem Titel "Sie haben es doch gut gemeint" begegnet ist und ich MUSSTE es mir sofort kaufen, denn ich dachte, ein Buch mit diesem Titel, das passt wohl zu mir.... - Und so war es dann ja auch; als ich es gelesen habe, konnte ich es kaum glauben, wie genau meine Denkens- und Verhaltensmuster darin beschrieben und erklärt werden; wie sehr alles auf meine Kindheitsgeschichte passt.

Ich glaube, ein Problem, warum dieses schlechte Gewissen entsteht, wenn ich nicht gut über früher spreche, ist: als ich Kind war, habe ich ja alles so hingenommen; ich dachte, in unserer Familie ist alles in Ordnung, ich darf nicht traurig sein über bestimmte Dinge, habe mich eben angepasst und bloß nicht aufgemuckt, weil ich dachte, das "darf" nicht sein, das gehört sich nicht, was sollen die anderen Menschen von mir denken...?!
Erst jetzt, viele Jahre später, ist mir klar geworden, wieviel da eigentlich nicht in Ordnung war und daß es scheinbar doch eine Berechtigung hat, daß ich mit manchen Dingen, die ich erlebt habe, unzufrieden oder unglücklich bin... - aber weil ich eben sooo lange anders gedacht habe, mich nie getraut hätte, (öffentlich) unzufrieden zu sein, ich glaube deshalb habe ich - immer noch - ein so derart schlechtes Gewissen...?!
Und Dir geht es ja scheinbar ähnlich, oder?

Ich wünsche Dir noch einen schönen Abend und einen guten Start ins Wochenende!
Liebe Grüße,
Blaumeise
Sham
Beiträge: 75
Registriert: 14. Feb 2011, 11:35

Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Sham »

Guten Morgen Blaumeise,

ich staune immer wieder, dass man sich ohne im Detail verzetteln zu müssen, so gut verstanden fühlt.

Gestern habe ich nun die restliche Geschichte aus meiner Kindheit meiner Therapeutin erzählt. Obwohl ich die ganze Zeit geweint habe, konnte ich besser sprechen.

Am Anfang der Therapiestunde habe ich ihr gesagt, dass ich erschrocken war, dass ich beim ersten Mal so heftig reagiert habe, dass ich nur noch das Gefühl hatte, dass ich irgendwie durch die Sache muss und dass ich erschrocken war, dass ich keine Worte mehr gefunden habe. Ich hatte mir viele Male vorgestellt, dass ich das wie mein eigener Zuschauer erzählen könnte, doch dann war es so, als ob ich das gerade jetzt erlebe.

Sie sagte, dass sei gut so wie es ist, anders würde es nicht helfen.

Nachdem ich den Großteil meiner aus meiner Kindheit erzählt hatte und teilweise auch einige Details aus meinem späteren Leben, die mit meiner Mutter zusammenhängen, fragte sie: "Ihre Mutter hatte wohl nie jemanden, der sie gestoppt hat, der ihr Grenzen gezeigt hat und warum haben Sie den Kontakt nicht abgebrochen?"

Dann habe ich ihr den Rest erzählt. Daraufhin sagte sie zu mir: "Entschuldigen Sie bitte meinen emotionalen Ausbruch, aber ihre Mutter hatte niemals Depressionen wie glauben, ich weiß nicht, was ihre Mutter geritten hat, in meinen Augen ist sie einfach eine böse Frau und ich wünsche ihr noch viele schlaflose Nächte!"
Sie sagte noch einmal, dass ich wahnsinniges Glück habe, da gesund herausgekommen zu sein. Hätte ich mich nicht gewehrt, wäre es vielleicht anders gewesen.

Weißt Du Blaumeise, ich habe mich als Kind gewehrt, ich habe gekämpft, doch wohin sollte ich? Heute weiß ich, dass es viele Zuschauer gab, die mich bemittleideten, aber nichts unternommen haben. Wenn mich doch einmal Lehrer oder andere fremde Leute fragten, warum dieses oder jenes nicht klappt, warum ich nicht viel mehr lerne, war ich stumm. Ich habe oft versprochen, dass ich mich ändern will, dass ich mich verbessern will, dass ich lieb sein will. Ich habe aber nie verstanden, was ich ändern soll und wie.
Meine Mutter hatte Alkoholprobleme, dass wusste ich aber nicht so genau. Habe es erst viel später, als ich 23 war gesehen und dann hat mein Vater mir gesagt, dass das Problem schon über 10 Jahre besteht.

Du kannst Dir vielleicht vorstellen, was das bedeutet. Du gehst morgens friedlich aus dem Haus, kommst von der Schule und wirst wüst beschimpft, mit den übelsten Schimpfworten betittelt. Ich habe mich so dreckig gefühlt, so übel.
Meine Mutter hat es aber verstanden, mich anders zu manipulieren. Wenn ich geschrien habe, weil sie mich anspuckte oder schlug, sagte sie immer: "Du sollst Dich schämen, so benimmt man sich nicht, was Du Deiner Mutter antust, das tut man nicht!".
Ich habe mich geschämt und ich hatte ein verdammt schlechtes Gewissen. Ich sollte mich ständig an irgendwelche Regeln halten, ich sehe heute noch keine Regeln. Wenn ich wieder geschlagen wurde, habe ich geschrien, dass ich wieder lieb sein will, dass ich mich an die Regeln halten werde. Nur welche?

Es gab eine einzige Regel: Was in unserer Familie passiert, geht niemanden etwas an. Man spricht nicht schlecht über seine Eltern. An diese Regel habe ich mich mein ganzes Leben gehalten.

Wenn ich heute mit anderen Leuten zusammen bin und diese sich gern an ihre Kindheit und gemeinsamen Erlebnisse mit ihrer Familie erinnern, habe ich immer das Gefühl, als ob mir ein Stück meiner Biographie fehlt. Da ist nur ein dunkles Loch.

Ich weiß nicht, was meine Mutter denkt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie mich liebt, aber doch glaubt, dass ich Schuld an ihrer Misere bin. Sie wollte nur mein Bestes, sie hat sich angeblich aufgeopfert und zum Dank für ihre Opferbereitschaft hatte sie ein Kind, welches sich gewehrt hatte, wenn es geschlagen, bespuckt und auf übelste Weise beschimpft wurde. Kann eine Mutter so blind sein?

Nach der gestrigen Therapiestunde ging es mir besser, als nach der letzten Stunde. Ich hatte ein bisschen das Gefühl, als ob ich einen viele Zentner schweren Sack abgestellt habe, trotzdem plagt mich ein bisschen mein schlechtes Gewissen. Ich fühle, dass es richtig war, die Regel des Schweigens zu brechen und trotzdem schäme ich mich ein bisschen und habe auch ein bisschen das Gefühl, meine Mutter verraten zu haben, gerade jetzt, wo sie im Krankenhaus liegt, eine schwere OP hinter sich hat und so hilflos wirkt.

Ist doch auch paradox oder?

Hoffentlich hilft mir das Buch, mich besser zu verstehen. Wenn ich Glück habe, wird es heute, spätestens aber morgen mit der Post kommen.

Ich wünsche Dir auch ein schönes Wochenende. Muss jetzt Schluss machen, weil ich noch einiges zu erledigen habe. Anschließend kommt eine Kollegin mich besuchen, darauf freue ich mich schon riesig.

Liebe Grüße
Sham
Glück ist, nicht mehr zu wollen als man kann und nicht zu müssen, was man nicht will.
Sham
Beiträge: 75
Registriert: 14. Feb 2011, 11:35

Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Sham »

Hallo Blaumeise und Denker,

ich glaube, das Buch "Sie haben es doch gut gemeint" ist das Beste was Ihr mir empfohlen habt.

Sich hoffe, dass sich niemand mit seiner Depression auf den Schlips getreten fühlt. Als selbst Betroffene, erlaube ich mir trotzdem, das sich über meine Depression auch mal lachen kann:

Nachdem ich bei Seite 38, Kapitel 3 angekommen bin und das erste Fallbeispiel gelesen habe, musste ich so lachen. Ich konnte vor Lachen nicht mehr weiterlesen.
Das bin ja haargenau ich!!!!!

Unglaublich!! Bin gespannt wie es weiter geht.

Ich wünsche Euch noch einmal ein schönes Wochenende.

Liebe Grüße
Sham
Glück ist, nicht mehr zu wollen als man kann und nicht zu müssen, was man nicht will.
Blaumeise-umk
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Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Blaumeise-umk »

Guten Abend Sham,

es freut mich zu lesen, daß die Therapiestunde gestern trotz aller Trauer doch irgendwie gut für Dich war und Deine Theraupeutin soviel Verständnis hat.
Vielen Dank auch für Deinen ausführlichen Bericht über Deine Kindheitserfahrungen, der mich sehr berührt hat, denn es muß furchtbar sein, solchen Agressionen und körperlicher Gewalt ausgesetzt zu sein.
Körperliche Gewalt gab es bei uns in der Familie nicht, aber das Gefühl, nie zu wissen woran man ist, wenn man mittags aus der Schule kommt, kenne ich auch. Bei uns war mein Vater der "Unsicherheitsfaktor". Er litt sein ganzes Leben unter teils sehr starken Depressionen, die er nach außen fast nie gezeigt hat, aber innerhalb der Familie schon; wir haben sozusagen die "geballte Ladung" abbekommen, so kommt es mir jedenfalls im Nachhinein vor. Wenn es meinem Vater gut ging, war alles in Ordnung, aber es konnte so schnell "kippen"...; man mußte einfach ständig "auf der Hut sein" und durfte sich ja keinen "Fehler" erlauben... - schon eine knarrende Treppenstufe oder eine klein wenig zu laut geschlossene Tür o.Ä. während der Mittagspause konnte Auslöser sein, daß es ihm wieder "schlecht geht", weil seine Ruhe gestört wurde.... Noch heute habe ich ganz schnell Schuldgefühle, wenn es jemandem nicht gut geht; denke immer, ich habe mich mal wieder nicht genug angestrengt...
Ja, auch bei uns war es so, daß kaum jemand wußte, daß mein Vater krank ist; nach außen hin war alles in Ordnung, alles so, wie es zu sein hat: Vater berufstätig (Beamter), Mutter Hausfrau, 2 brave Kinder - vorbildlich sozusagen und ich denke bis heute, daß wenn ich manchen unserer früheren Nachbarn erzählen würde, daß es mir als Kind mit vielem Zuhause nicht gut ging - sie würden es mir wohl nicht glauben....

Du schreibst, Du hast das Gefühl, Deine Mutter "verraten zu haben" - dieses Gefühl kenne ich nur allzu gut!! So denke ich auch immer, wenn ich in der Therapiestunde oder vor anderen nicht gut über unsere Familie, mein Erleben früher erzähle - das Gefühl, die Familie zu "verraten", weil ich nicht mit dem zufrieden bin, was ich bekommen habe, obwohl "Sie haben es doch gut gemeint"... - und wegen dem Gefühl des Verrats dann eben das schlechte Gewissen, von dem wir schon geschrieben haben... - irgendwie auch ein Teufelskreis, oder?!

Prima, daß das Buch schon bei Dir angekommen ist und der Tipp wohl richtig war... Ja, "das bin ja haargenau ich...", das habe ich auch nicht nur einmal beim Lesen der ersten beiden Bücher von Herr Giger-Bütler gedacht und bin deshalb ja auch so fasziniert und angetan davon.

Dir weiter viel Spaß beim Lesen
und ein schönes, sonniges Wochenende!
LG,
Blaumeise
Sham
Beiträge: 75
Registriert: 14. Feb 2011, 11:35

Re: erstaunt und erschrocken

Beitrag von Sham »

Hallo Blaumeise,

ich kann mir gut vorstellen, dass es mit Deinem Vater auch nicht leicht war. Auch wenn Dein Leid für Außenstehende nicht sichtbar war, so ist diese Betrachtungsweise doch nur sehr oberflächlich.
In der Schule und bei fremden Leuten war und bin ich auch immer die Angepasste, die Ruhige, die man kaum wahrnimmt, die immer Verständnis für alles Mögliche hatte. Ich war das sprachlose ruhige Kind in der Schule, dass, wenn es einmal eine schlechte Note gab, immer versprochen hat sich zu ändern und doch nicht wusste was es ändern könnte.
Gewehrt habe ich mich nur bei meiner Mutter, als ich langsam älter wurde und mir die Übergriffe offensichtlich schienen. Trotzdem habe ich immer geglaubt, dass ich schuldig bin, weil eine Mutter ja ihr Kind nicht grundlos so behandelt. "Hätte ich ihr keinen Anlass gegeben, hätte sie mich nicht so behandelt und ich hätte mich nicht wehren müssen."

Ich denke, dass man unser jeweils eigenes Leid nicht gegeneinander aufwiegen kann. Es gibt nicht das Leid per Definition, das wäre zu einfach und oberflächlich gedacht.
Wenn es das Leid per Definition gäbe, dann hätten wir im Vergleich zu vielen anderen Teilen unserer Welt gar keine Berechtigung Leid zu empfinden. Vergleiche, das Leid des Einen mit dem Leid des Anderen in Erwägung zu stellen hinken immer.

Entscheidend ist doch nur, das man eine Situation als leidvoll erfahren hat.

Beim Lesen bin ich inzwischen auf Seite 92 angekommen und beginne so etwas wie einen Zusammenhang zu sehen. So etwas wie ein Bindeglied, welches mir immer gefehlt hat.

Ich beginne zu verstehen, warum ich nie so etwas wie ein Heimatgefühl hatte. Ich wusste mit dem Begriff Heimat eigentlich nichts anzufangen und habe oft gesagt, dass es mir ganz gleich ist, auf welchen Punkt der Erde ich mich gerade befinde, so etwas wie einen Hafen hatte ich nie. Wichtig war immer nur, dass ich da wo ich zufälligerweise bin eine Arbeit habe, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Ich habe mich auch manchmal gewundert, warum ich so ein gespaltenes Verhältnis zu Lob hatte. Kritik habe ich besser ertragen, das passte eher zu mir. Lob war für mich etwas zufälliges, für eine Leistung, die nun gar nicht der Rede wert ist.

Beim Nachdenken sind mir viele solcher Beispiele eingefallen. Als ich vor einigen Jahren eine Umschulung machte, was mich erst einmal viel Überwindung kostete und dann feststellte, dass ich eine 1 nach der anderen bekam sagte ich mir entweder: na ja, ich habe ja nur 97% erreicht oder na ja, es war ja auch besonders leicht und nicht der Rede wert.
Später als ich schon längst in meinem neuen Job arbeitete, war es nicht anders. Ich habe mich manchmal sogar geschämt, wenn mein Chef mich lobte und dachte: Ha, es hat zum Glück wieder einmal geklappt, dass er nicht mitbekommen hat, was ich nicht weiß!

Ich glaube, dass mein Chef irgendwie gemerkt haben muss, dass ich gut bin, aber irgendwelche Probleme habe. Er hat mir mal gesagt: "Sie müssen sich auch mal selbst verzeihen können." oder "Sie müssen auch mal NEIN sagen." Welcher Chef tut das?

Ich selbst sah mich nie gut, es war nie genug. Ich habe tatsächlich immer gesucht wie ich sein wollte und nicht zu sein glaubte, dabei habe ich nie gemerkt, dass ich die bin, die ich sein will. Manchmal kamen mir auch Gedanken: "Wenn die wüssten, was ich für eine war!"

Weißt Du, liebe Blaumeise, ich habe 4 Jahre im Ausland in der Großfamilie meines Mannes gelebt. Dort habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben geborgen gefühlt, meine Schwiegermutter war wie eine Mam, mein Schwiegervater wie ein Papa. Die Zeit habe ich sehr genossen und doch habe ich es nicht wirklich annehmen können. Weil ich mir dachte: "Na ja, die kennen meine Vorgeschichte nicht und außerdem sind sie keine Deutschen, sie sind per se andere Menschen."

Seit gestern weiß ich, dass Heimat nicht unbedingt der Ort sein muss, wo man aufgewachsen ist. Heimat ist wohl vor allem der Ort, wo man sich geborgen fühlt, ganz gleich wo auch immer der Ort sein mag. Meine Schwiegereltern sind und bleiben meine Eltern des Herzens. Leider leben beide nicht mehr.

Merkwürdigerweise tut mir der Gedanke an meine eigene Mutter nicht mehr wirklich weh. Es ist schade, aber ich kann es nicht ändern.

Meine Mutter wird mich nie verstehen, ich spüre plötzlich auch kein Bedürfnis, dass sie mich versteht. Ich spüre auch keinen Hass und keine Wut. Das sie mich nicht verstehen kann oder will, ist ihr eigenes Problem.

Ich hoffe, dass ich mit dieser Einsicht den Weg zu mir finde und das wünsche ich Dir auch.

Seltsam, ich beginne meine Depression sogar als Geschenk zu betrachten, welches mir tiefere Einsichten ermöglicht. Einsichten, die ich unter normalen Bedingungen wohlmöglich nie hätte haben können. Ich wünsche niemanden diesen Leidensweg, diese unendlichen Qualen und doch ist es so, dass ich ohne dem totalen Zusammenbruch niemals herausgefunden hätte, wo was mein Problem nun eigentlich ist. Ich habe geglaubt, dass mich der Stress auf Arbeit fertig gemacht hat. Das war wohl auch zu oberflächlich gesehen.

Dies Krankheit ist schon ein verdammter Teufelskreis, bis man beginnt zu verstehen und begreifen. Obwohl ich durchaus vernünftige Gedanken hatte, muss ich doch ganz schön benebelt gewesen sein. Das ist so unfassbar.

Nochmals ein schönes Wochenende

Liebe Grüße
Sham
Glück ist, nicht mehr zu wollen als man kann und nicht zu müssen, was man nicht will.
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