Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

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22222
Beiträge: 28
Registriert: 6. Dez 2010, 23:21

Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von 22222 »

erstmal hallo zusammen,

habe mich hier angemeldet, weil man hier so gut verstanden wird.

heute hatte ich meine zweite therapiesitzung und frage mich - auch nach dem arztbesuch gestern zwecks konsiliarberichts - ob mir die vermeintliche "stärke", die ich an den tag lege (die fassade) zum verhängnis werden könnte. ich glaube, niemand weiß oder glaubt, wie mies es mir wirklich geht, und langsam zweifel ich schon selber daran ob ich mich nicht einfach nur anstelle. ich hab die therapeutin (meine zweite, ich hab vor jahren meine erste therapie beendet) aufgesucht, weil ich symptome hatte, die noch nie dagewesen waren. ich hab solche angst und verzweifel grad wirklich am leben, aber sobald ich beim arzt oder in der therapie oder auch bei anderen mitmenschen bin, mit denen ich darüber eigentlich reden will, geb ich mich 100% gefasst, reflektierend, stark, erwachsen, vernünftig.

ich glaube alle fragen sich, "was die eigentlich beim therapeuten will".
vielleicht hab ich in wirklichkeit garnichts?

vielleicht muss ich mich einfach mehr zusammenreißen.

kennt jemand von euch das oder ist das eher sehr ungewöhnlich...?

vielen dank... und beste grüße
maerlyn
Susanne_Scherrer

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von Susanne_Scherrer »

Hey Merlyn

herzlich willkommen hier.

Nix zusammenreißen....gerade das ists, was Kraft kostet. Und nur Du allein kannst beurteilen, WIE Du Dich in Deinem Körper fühlst...niemand sonst.

Depressionen können so individuell sein, wie ein Fingerabdruck.
Jeder Maskenträger ( und das sind wir ja fast alle ) hat seine ganz spezielle, eigene Maske.
Deine scheint äusserst "raffiniert" zu sein, indem sie nicht nur die Ärzte und Therapeuten "hinters Licht" führt, sondern anscheinend auch Dich selbst.

So habe ich Dich jedenfalls bisher verstanden.
Es liegt jetzt an Dir, den Ärzten klar zu machen, das es Dir schlecht geht und Du es nicht schaffst (angeblich) zuzulassen, dass es Dir wirklich nicht gut geht.

Hast Du ne Idee, wie das funktionieren könnte ?
Wie fühlst Du Dich, wenn Du zu Hause bist?
...und auf Arbeit ?

LG
Sanne
Dendrit
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Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von Dendrit »

Hallo!

Bei meinem allerersten Psychiater (in der Klinik) kam das irgendwie raus, also er sagte das, dass er das Gefühl hat, ich tu nur so wie ich wirk - dass ich eine Maske hab. Aber er sagte das nicht abwertend. Zu ihm hatte ich auch Vertrauen, zum OA nicht. Der hatte vor meinem 2. Aufenthalt gesagt, ich könne wieder gehen. Aber "meiner" sagte doch, ich soll bleiben (- er Widersprach dem "Oberguru", das war schon mal was. )

Dann hab ich das bei jeder Aufnahme gleich gesagt und bei den Niedergelassenen auch kurz drauf. Einer fragte auf die Frage nach dem Befinden nach: "Und wie wirklich?" Oder ein anderer, wo ich mich bei einer Skala 0-100 einordnen würde. So konnte ich mal gutgelaunt und freudestrahlend (dementsprechend gegenteilig fühlte ich mich) sagen, Minus 7.

Deswg. das als Tipp: es (relativ) gleich zu sagen, dass man "Maskenträger" ist. Irgendwie findet der Gegenüber dann auch eine Brücke, dass er das erfährt, wie's wirklich aussieht, auch wenn man trotzdem die Maske aufbehält. Denn je schlimmer es einem geht, desto vertrauenswürdiger, gefasster, gutgelaunt etc. gibt man sich, was einem zusätzlich auch noch Kraft raubt. Obwohl ich sagen muss, dass dieser Automatismus heute noch funktioniert. Doch im Laufe der Jahre merkt/merken mein(e) Psychiater doch irgendwie, dass es mir tatsächlich gut geht - zumindest ist mir das aufgefallen.

LG, Manuela
lowrider60sec

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von lowrider60sec »

Hallo Maerlyn,

>>heute hatte ich meine zweite therapiesitzung und frage mich - auch nach dem arztbesuch gestern zwecks konsiliarberichts - ob mir die vermeintliche "stärke", die ich an den tag lege (die fassade) zum verhängnis werden könnte.>>

Meine Antwort auf diese deine Frage lautet JA. Ich dachte auch jahrelang, man müsse sich beim Arzt zusammenreissen. Irrtum, denn dann merkt der nicht, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wo sonst kann man offen und ehrlich sein, wenn nicht beim Arzt ?

LG
lowrider
streusalz62
Beiträge: 52
Registriert: 22. Nov 2010, 14:03

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von streusalz62 »

Hallo maerlyn und ein Willkommen für Dich.

Sein Innerstes zu öffnen, ist schwer. Zu geübt ist man im Verstecken der vermeintlichen Schwäche.

Würde es Dir vielleicht helfen, wenn Du Dir zu Hause einen kleinen Spickzettel anlegst? Einen Spickzettel, der festhält, was Dich wann so fertig macht, Angst und Panik hervor ruft.
Nimm diesen Zettel mit in die nächste Therapiestunde; es kann möglich sein (so war es vor Jahren bei mir mit gleicher Lagerung, die Du jetzt schilderst), dass Dich die Erinnerung an die unguten Gefühle, an die Angst und Panik etc. in die dann momentane Gegenwart katapultiert - und das Eis ist gebrochen ... Du kannst das raus lassen, was Dich bedrückt, Dich krank macht.

Du weißt am besten selbst, ob dieser Tipp für Dich hilfreich sein könnte, aber viell. möchtest Du diesen Ansatz mit in Deine Überlegung einbeziehen, um Deine nach außen gezeigte Fassade ein wenig vom Anker reißen zu können.

Liebe Grüße
pepita
hvwezel
Beiträge: 133
Registriert: 8. Apr 2009, 22:42

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von hvwezel »

Liebe Maerlyn,
mir ging es genauso. Meine Therapeutin und auch meine Ärztin sagten immer ich wirkte so stark und fest im Leben stehend.
Aber dass war nicht so....
Bis ich meiner Therapeutin angefangen habe E- Mails zuschreiben. Da war sie sehr erschrocken. Ich kann meine Gefühle besser aufschreiben.
Bei meinerÄrztin habe ich es dann auch später gemacht. Ich habe vorher ein Zettel aufgeschrieben und ihn dann zu ihr mitgenommen.
Versuche esdoch auch mal deine Gefühle einfach aufzuschreiben.
Alles Gute!
Lg
Heike
no name
Beiträge: 425
Registriert: 29. Okt 2008, 11:09

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von no name »

Hallo Maerlyn,

dieses Phänomen ist mir mehr als vertraut und wie Manuela es bereits beschrieben hat funktioniert dieser Automatismus heute noch.
Habe zwar zum Glück einen Psychiater zu dem ich sehr viel Vertrauen hab, der mich gut kennt und trotzdem verfalle ich gerade in schlechten Phasen in einen Mutismus, so wie er das nennt, d. h. es ist mir nicht mehr möglich überhaupt mit ihm zu sprechen.
Wie von anderen hier gepostet wurde, hat auch mir schon mal ein Spickzettel geholfen.

Was die Therapie angeht, so habe ich mich durchgerungen, dies einfach mal anzusprechen. Habe ihm die Problematik mit der Fassade geschildert, das ich gerade in schlechten Phasen und bei schwierigen Themen sehr wortkarg werde und ihn in diesem Punkt um Hilfe gebeten.

Grundsätzlich denke ich aber, ist ein guter Therapeut und Arzt sehr wohl in der Lage den
Zustand seines Patienten trotz gut funktionierender Fassade sehr schnell zu erkennen.

Viele Grüße

no name
soshana
Beiträge: 2
Registriert: 1. Jul 2007, 22:08

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von soshana »

Auch ich finde mich in Deinem Bericht wieder. Ich neige allerdings dazu, schlimme Erlebnisse ins Lächerliche zu ziehen und sie mit Ironie und Humor zu überspielen, um ihnen die Dramatik zu nehmen. Mein Therapeut hat dies zum Glück ziemlich schnell erkannt und hat mir selbst gesagt, dass er vorsichtig sein muss und immer zwischen den Zeilen lesen muss, um zu wissen, wie schlecht es mir eigentlich geht. Ich denke, ein guter Therapeut merkt, wie es wirklich in dem Patienten ausssieht, aber dafür reichen sicherlich keine zwei Therapiestunden. Viele von uns setzen sich eine Maske auf, um im Alltag zu bestehen und es ist schwer diese Maske fallen zu lassen. Wichtig ist nur, dass der Therapeut hinter die Maske schauen kann. Ich hoffe, dass Deine Therapeutin bald merkt, wie es hinter Deiner tapferen Fassade wirklich aussieht!
22222
Beiträge: 28
Registriert: 6. Dez 2010, 23:21

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von 22222 »

ihr lieben,

danke für eure hilfreichen beiträge. hilfreich schon allein deshalb, weil es gut ist zu wissen, dass es anderen auch so geht!
die dritte stunde war schon viel besser, ich hatte über die idee mit dem spickzettel mal nachgedacht aber es hat auch so ganz gut geklappt.
ich glaube, das schwankt sehr stark...

mal gespannt wie es sich weiterentwickelt.
beste grüße
chrigu
Beiträge: 2081
Registriert: 20. Mär 2006, 12:20

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von chrigu »

Hi No name,

ich finde, man sollte sich nicht dahinter versteckten, dass ein guter Therapeut/Arzt schon merken sollte, wenn es einem nicht gut geht.

Da hängen eine ganze Reihe von Trugschlüssen dran: Wenn der Therapeut es nicht merkt, ist er dann ein schlechter Therapeut? Sicher nicht. Wenn er es nicht merkt, stimmt dann vielleicht meine Selbsteinschätzung nicht und in Wirklichkeit geht es mir gar nicht so schlecht? Sicher auch nicht.

Deshalb will ich Mut machen, Ärzten und Therapeuten gegenüber ganz offen zu sein. Wie lowrider schon schrieb: Wenn man nicht da offen ist, wo sonst? Das ist ja, als würde man mit gebrochenem Bein zum Orthopäden humpeln, dort sagen "Ist alles in Ordnung!" und somit zu riskieren, dass der Knochen für alle Ewigkeiten falsch verwächst.

Dass es nicht einfach ist, die Karten auf den Tisch zu legen, das kenne ich sehr gut! Es erfordert Mut, bei manchem mehr als bei anderen. Als hilfreich habe ich erlebt, erstmal der Therapeutin zu sagen, dass es mir sehr schwer fällt, über meinen Zustand zu sprechen und die Dimension meines Schlechtgehens zu beschreiben. So konnten wir uns über eine Meta-Ebene dem eigentlichen Kern nähern.

Viele Grüße
Chrigu
no name
Beiträge: 425
Registriert: 29. Okt 2008, 11:09

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von no name »

Hallo Chrigu,

von Verstecken kann meines Erachtens nicht die Rede sein, also zumindest nicht was mich persönlich betrifft.
Was meinen Psychiater betrifft, so gerate ich dort manchmal in einen Zustand, den ich selbst nicht mehr beeinflussen kann, auch wenn ich es gern möchte, es geht einfach nicht.
Ich weiß jetzt nicht, ob du das vertehen kannst.

Was meinen Therapeuten betrifft, so habe ich mich, wenn auch erst nach langer Zeit, ihm gegenüber geöffnet (s.o.).

Ich möchte nicht sagen, dass ein Psychiater/Therapeut grundsätzlich schlecht ist, wenn er die Problematik hinter der Fassade nicht gleich erkennt.
Aber ich finde trotzdem, dass dazu nicht nur die ärztliche/therapeutische Kompetenz wichtig ist, sondern auch ein gewisses Einfühlungsvermögen. Wie gesagt ich kann da nur von meinen Erfahrungen sprechen.

Einen schönen Abend noch,

viele Grüße

no name
chrigu
Beiträge: 2081
Registriert: 20. Mär 2006, 12:20

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von chrigu »

Hallo no name,

ja, ich verstehe, was Du meinst.

Vielleicht hätte ich Dich gar nicht direkt ansprechen sollen, aber Dein Post war quasi ein Vorlage dafür, maerlyn deutlich zu machen, wie wichtig es ist, selbst aktiv zu werden und sich nicht zu verstecken in der Hoffnung, der andere können Gedanken lesen. Es war auch nicht als Kritik an Dir gemeint.

Den Zustand nichts sagen zu können, kenne ich sehr gut! Deshalb habe ich genau diesen Zustand erstmal thematisiert, das hat enorm geholfen.

Dir auch einen schönen Adventsabend!
Chrigu
22222
Beiträge: 28
Registriert: 6. Dez 2010, 23:21

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von 22222 »

hallo chigru,

wie hast du es denn geschafft, in diesem zustand, wo du nichts mehr sagen konntest, das zu thematisieren? - ist eine ernst gemeinte frage, ich hab das neuerdings auch. und da entstehen ratlose minuten, die mir überhaupt nicht weiterhelfen.

grüße
chrigu
Beiträge: 2081
Registriert: 20. Mär 2006, 12:20

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von chrigu »

Hallo maerlyn,

ich habe einfach gesagt, dass ich nicht darüber sprechen kann, was ist. Die Therapeutin fragte dann, warum nicht. Darüber haben wir uns langsam herangestastet, warum ich es nicht konnte. Und dabei kamen auch viele der Dinge zur Sprache, über die ich vorher nicht sprechen konnte. Das hat sich allerdings über viele Stunden gezogen!

Wenn auch das nicht geht, dann kannst Du das vielleicht aufschreiben? Einen Zettel mitbringen, auf dem so etwas steht wie "Ich bin gerade sprachlos, können wir daran arbeiten?" oder ähnliches. Du könntest auch anfangen indem Du beschreibst, wie es sich für Dich anfühlt, sprechen zu müssen, obwohl es nicht geht. Es gibt sicherlich noch andere Einstiegsmöglichkeiten, mir fallen gerade nur diese ein.

Viel Erfolg!
Chrigu
22222
Beiträge: 28
Registriert: 6. Dez 2010, 23:21

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von 22222 »

Danke für deine Tipps. Das ist echt seltsam. Ich hab das auch im Alltag, wie gerade jetzt. Ich finde einfach keine Worte, um auszudrücken was ich denke.

Nichtmal in meinem Kopf nehmen die Gedanken formulierbare Gestalt an.

Sonst würde ich jetzt irgendwie dazu Stellung nehmen.

Jessi1980
Beiträge: 450
Registriert: 25. Jan 2010, 18:23

Re: Wie gut erkennen Therapeuten den "Ernst" der Lage?

Beitrag von Jessi1980 »

Hallo!
Ich kenne genau das gleiche Problem. Sobald ein Therapeut in meiner Nähe war, gab ich mich automatisch so erwachsen und stark, dass ich selbst schon in Frage stellte, warum ich eigentlich einen benötige. Meine erste Therapeutin (Verhaltenstherapeutin) hat mich bis zu meiner ersten richtigen offensichtlichen schlechten Depri-Phase sogar für relativ gesund gehalten (das hat sie mir gesagt) aber kurz vor der Reha brach alles zusammen und sie verstand erst dann, dass ich wirklich Hilfe benötigte. Bis dahin verging allerdings ein halbes Jahr! Auch in der Reha gab ich mich stark, obwohl meine psychosomatischen Beschwerden mich fast "umgebracht" haben. Das fiel dann aber meinem Analytiker auf. Ich habe immer sehr flach geatmet und machte einen spannungsgeladenen Eindruck. Aber selbst dort sagte mir der Analytiker am Ende, ich sei gar nicht so krank, wie ich denke, wer krank ist, seien meine Mutter und mein Chef. Als ich dann einen Analytiker zuhause aufgesucht habe, sagte er mir nach relativ kurzer Zeit, dass der Rehabericht sehr oberflächlich sei und viel Arbeit vor mir stünde. Er hat wirklich erkannt, dass diese "Fassade" nur eine Fassade ist. Auch wenn ich heute immer noch nicht vor einem Therapeuten weinen kann, lasse ich meine Maske immer mehr fallen und bemerke selbst, wieviel "Seelenmüll" sich so in den ganzen letzten Jahren aufgestaut hat.
Und dieser Therapeut verschönt nichts, lässt die absolute, meine Wahrheit zu, ist selbst nicht von irgendeiner Moral abhängig, sondern begleitet mich einfühlsam und absolut authentisch. Vielleicht liegt es an der Therapieform, wenn man als Patient den Eindruck hat, nicht wirklich ernst genommen zu werden?
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