Früherwachen und wieder einschlafen

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ursus
Beiträge: 159
Registriert: 22. Apr 2004, 12:52

Früherwachen und wieder einschlafen

Beitrag von ursus »

Liebes Forum,

vor ein paar Jahren habe ich an dieser Stelle darüber gejammert, dass ich morgens nicht aus dem Bett kam und deshalb oft mit großer Verspätung im Büro war.

Jetzt, wo ich arbeitslos bin - ich nenne es mal "eine Auszeit" - habe ich das entgegengesetzte Problem: Ich wache gegen 3:00 Uhr auf und kann nicht wieder einschlafen. Genauer: Ich bin so wach und klar, dass ich wie automatisch in die Küche gehe, frühstücke, mich wasche und anziehe und um 5:00 Uhr die Zeitung heraufhole. Dabei stelle ich mir, wenn ich noch im Bett liege, überhaupt nicht die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, noch ein paar Stunden zu schlafen - ich bekomme einen solchen Energieschub (gepaart mit großem Appetit auf mein Frühstücksmüsli), dass ich sofort loslege.

Leider führt diese Gewohnheit des frühen Aufstehens regelmäßig nach einer gewissen Anzahl von Tagen zur totalen Erschöpfung. Ich liege dann völlig phlegmatisch in meinem Schlafzimmer herum, kann mit niemandem sprechen, die Zeitung bleibt unten, der Computer ausgeschaltet - und nicht selten verbringe ich unter Qualen den ganzen Tag im Bett.

Ist ja auch klar, dass ich es auf die Dauer nicht aushalten kann, jede Nacht nur zwischen vier und sechs Stunden Schlaf zu haben. Ich bekomme eine Menge aufputschende Medikamente (Cymbalta, Edronax, Abilify, Lamictal), weil die Antriebslosigkeit noch immer mein Hauptproblem ist. Was ich bisher versucht habe (und immer wieder versuche):
- Schlafhygiene
- Stangyl (ruft bei mir einen starken morgendlichen Überhang hervor)
- Zop (hilft mir nicht einmal zuverlässig beim Einschlafen)
- Dipiperon (na ja)
- Remergil (außer 20 kg Gewichtszunahme keine erkennbare Wirkung)
- Ausbalancierung der Neuroleptika (derzeit Solian 200 - 0 - 0 - 200)

Im Moment nehme ich eine Stunde, bevor ich zu Bett gehe, Circadin und Solian, kurz vor dem Zähneputzen ca. 80-100 mg Atosil (Tropfen) und danach Stilnox. Befriedigend ist das noch immer nicht.

Ich habe das Thema Schlaf/Wach-Rhythmus ganz oben auf die Agenda meiner im Dezember bevorstehenden Reha gesetzt. Aber vielleicht hat jemand von euch noch Tipps.

Liebe Grüße
ursus
otterchen
Beiträge: 5118
Registriert: 3. Jan 2007, 10:43

Re: Früherwachen und wieder einschlafen

Beitrag von otterchen »

Hallo Ursus,

ich bin ein wenig erschrocken, was Du alles so an Medikamenten zu Dir nimmst.

Ich fürchte, die Medikamente zur Antriebssteigerung sind der Knackpunkt: sie treiben Dich so sehr an, dass Du phasenweise total früh aus dem Bett hüpfst, bis Dein Körper sein Recht auf Ruhe einfordert.

Hast Du diese Medikation mit Deinem Psychiater abgesprochen? Bei aller Vorsicht und Respekt Dir gegenüber, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Dir ein guter (!) Arzt all diese Medikamente auf einmal verschreibt. Das ist ja ein richtiger Cocktail.

Ich würde ein antriebssteigerndes Medikament morgens nehmen - und basta.
Was Dir sonst an Antrieb fehlt, gilt es dann nicht über Medikamente zu holen, sondern über Verhaltensänderung (inneren Schweinehund überwinden usw - Stichwort VT).
Ist aber nur meine Meinung, und ich bin weder Mediziner, noch kann ich aufgrund Deines Postings tatsächlich bewerten, was davon Du wirklich brauchst.
Aber Antrieb NUR von Medikamenten bekommen zu wollen, scheint in meinen Augen nicht nur falsch zu sein, sondern auch für den Körper bedenklich bis gefährlich.

Antrieb entsteht nicht unbedingt nur aus Lust und innerer Bereitschaft, sondern auch durch "erstmal anfangen und tun". Dies zu erkennen, war für mich auch schwierig und ich stecke immer noch in einer ansehnlichen Portion Antriebslosigkeit, aber mir wäre das mit den Tabletten zu riskant.
Immer mit Freude und Lust und Antrieb seinen Alltag zu bewältigen - das erscheint mir wie ein typischer Traum von Depressiven. Aber Überwindung, Last-Tragen und Aushalten gehört auch für Nicht-Depressive zum ganz normalen Leben.
mein gelerntes Sammelsurium: https://otterchenblog.wordpress.com/
ursus
Beiträge: 159
Registriert: 22. Apr 2004, 12:52

Re: Früherwachen und wieder einschlafen

Beitrag von ursus »

Hallo Otterchen,

danke für Deine Antwort.

Die Medikation ist das Ergebnis mehrerer langwieriger Klinik-Aufenthalte und psychiatrisch gut abgesichert. Wenn ich die Neuroleptika reduziere, habe ich Beziehungserleben, und wenn ich die Antidepressiva reduziere, bin ich weder arbeits- noch sozialtauglich. Circadin (= Melatonin) zur Regulierung des Schlaf/Wach-Rhythmus einzusetzen, ist eine relativ neue Methode. Die Forschung sagt, dass dadurch beispielsweise die Einschlafphase um etwa zehn Minuten verringert werden kann. Das ist eine kleine Hoffnung, und ich bilde mir ein, dass es mir ein wenig hilft. Stilnox nehme ich nur bei ausgeprägtem Bedarf; ich will ja nicht abhängig werden.

Soweit zu den Medis. Du hast völlig Recht - es kommt auf eine Verhaltensänderung an. Deshalb schreibe ich hier im Forum und hoffe insgeheim auf Anregungen. Verhaltenstherapeutisch gesehen befinde ich mich in einer ziemlich fatalen Situation: Das frühe Aufstehen wird durch gute Stimmung, Energie, kreative Ideen und Arbeitswut "belohnt" (positiv verstärkt), das späte Aufstehen (spät = nach 9:00) durch Antriebsmangel und niedergedrückte Stimmung "bestraft".

Mit Deinen Gedanken im letzten Absatz liegst Du sicher vollkommen richtig. Ich bin inzwischen so weit, die "schlechten" Tage zu akzeptieren und einfach vorbeiziehen zu lassen und möglichst wenig darunter zu leiden.

Liebe Grüße
ursus
rm
Beiträge: 2209
Registriert: 5. Nov 2006, 15:46

Re: Früherwachen und wieder einschlafen

Beitrag von rm »

>..Wenn ich die Neuroleptika reduziere, habe ich Beziehungserleben...<

Hallo Ursus,

das mit dem Früherwachen kenne ich. Meine Situation ist aber wohl eine andere als Deine und ich muß sagen, daß ich beim Lesen Deines Postings ähnliche Gedanken hatte wie Otterchen: Meine Güte, so viele Medikamente... Was bleibt da von Dir selbst übrig?

Aber ich denke, Du wirst da den für Dich richtigen Weg gewählt haben und kannst für Dich auf Deine Ärzte und Dich selbst vertrauen?!

Ich persönlich habe meine Medikamente nach Absprache mit einer für mich sehr vertrauenswürdigen Ärztin bis auf ein einziges nach und nach abgesetzt und fühle mich lebendiger, mehr ich selbst und bin froh, diesen Weg gehen zu können.

Bewußt durch alle Höhen und Tiefen, mit der Option, immer mehr über mich und meine Seele in Kombination mit meinem Körper erfahren zu können. Aber auch mit der Option, wenn unbedingt notwendig, mit einer Hinzunahme oder Erhöhung eines Medikamentes zu reagieren. Hierzu zählt auch (momentan notwendig) die kurzzeitige Einnahme eines Schlafmittels (Zopiclon).

Schlafhygienisch lege ich mich ab und an mittags für nicht mehr als eine halbe Stunde hin (wenn Zeit), aber auf keinen Fall in's Bett, sondern mit einer Decke auf's Sofa. Ich will dadurch bewußt das abendliche 'Ritual' (Schlafklamotten, Bett, Buch, kuschelig warm z.B.) nicht verwässern und deshalb mittags ein anderes 'Bild' als abends.

Wenn ich so früh aufwache (3 oder 4 Uhr), so gehe ich kurz raus, trinke in Stille einen Tee, den ich mir abends gekocht habe. Wenn ich meine, noch etwas tun zu müssen, dann was ganz Simples (Bügeln z.B.) und Eintöniges. Mit der Zeit werde ich dann wieder müde und schlaf auch noch mal so von 5 bis 6 oder 7 Uhr.

Ganz früh morgens schon was essen habe ich als kontraindiziert erlebt, da mein Körper damit signalisiert bekommt: Energiezufuhr = Antrieb = Leistungsbereitschaft. Ich warte bewußt mit dem Frühstücken bis nach dem Duschen.

Mittlerweile pendelt sich mein Schlafverhalten wieder in der 'Normalität' ein. Ausnahme sind akute Schmerzzustände wie ich sie momentan erlebe. Aber das wird hoffentlich vorübergehend sein.

Zum Schluß nochmal eine Frage: Was heißt 'Beziehungserleben'. Diesen Ausdruck hab ich noch nie gehört in von Dir o.g. Zusammenhängen.

Alles Gute Dir,
Reinhart
ursus
Beiträge: 159
Registriert: 22. Apr 2004, 12:52

Beziehungserleben

Beitrag von ursus »

Lieber Reinhart,

vielen Dank für Deine ausführlichen, gut abgewogenen und sehr hilfreichen Überlegungen. Es macht mir Hoffnung, dass der von mir im Moment als sehr qualvoll erlebte Zustand für andere eine Episode war, die überwunden werden kann.

Zu Deiner Frage: Beziehungserleben bedeutet, dass man Ereignisse auf sich bezieht, die in völlig anderem Zusammenhang standen und überhaupt nicht ad personam gemeint waren.

Zwei Beispiele:
[1] Ich habe ein kleines Ehrenamt in einem Verein und bin zu einer Vorstandssitzung gekommen, als ein paar andere Mitglieder schon beisammen saßen. Die Vorsitzende hat mich begrüßt und dann in die Runde gefragt, "Sollen wir jetzt mit den unangenehmen Dingen anfangen?" Das hat bei mir den Gedanken hervorgerufen, ich solle abgewählt werden. Ich war fest davon überzeugt, obwohl es keinerlei Anhaltspunkte dafür gab.
[2] Während eines Klinikaufenthalts kam ich später am Abend zurück auf die Station, und mein Zimmergenosse war in offenbar angespanner Stimmung im Stationszimmer. Ich war fest davon übezeugt, ich sei schuld, dass es ihm schlecht gehe, obwohl ich glaube, ein sehr rücksichtsvoller Mensch zu sein, und es wiederum für meine Wahrnehmung keinerlei Evidenz gab.

Das nennt man Beziehungserleben, und es ist eine der ersten Stufen in schizoiden Prozessen. Für mich hat sich das zuletzt im Beruf dahingehend ausgewirkt, dass ich mich praktisch immer unter Generalverdacht sah, das Gefühl hatte, ständig vom Arbeitgeber beoachtet zu sein (selbst wenn ich krank zu Hause war), und schließlich die gesamte Situation als ständiges Prüfungsszenario begriffen habe.

Das war Mitte vergangenen Jahres. In diesem Zustand bin ich dann wieder stationär aufgenommen worden. Während des Klinikaufenthaltes habe ich einen Klassiker der Psychiatrie gelesen: "Die beginnende Schizophrenie" von Klaus Conrad. Die Lektüre dieses Buches, die Psychoedukation und eine kluge Psychotherapeutin haben mir geholfen, gegenüber meiner damaligen Verfassung wieder eine "beobachtende" Meta-Position einnehmen zu können - und gleichzeitig einzusehen, *wie weit* ich schon auf dem Weg zur Schizophrenie gewesen war.

Eine erhebliche Gefahr für mich ist heute insofern entschärtf, als ich im Frühjahr endlich beschlossen habe, meinen alten Beruf aufzugeben. Damit sind Unsicherheiten verbunden, vor denen mich viele gewarnt haben (ich bin Anfang 40 und damit nicht mehr leicht "vermittelbar" auf dem Arbeitsmarkt), aber erstens habe ich mich auf diesem Wege vielleicht vor Schlimmerem gerettet, und zweitens hoffe ich, dass es für leidlich differenzierte und intelligente Menschen in dieser Gesellschaft immer irgendeine kleine Nische geben sollte.

Ganz liebe Grüße
ursus
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