Selbstzuschreibungstheorie

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raeubertochter

Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von raeubertochter »

Wie schon eine Nutzerin schrieb, zog sie sich früher jeden Schuh an und das ist depressiogen. Aber genau das wurde von uns in der Reha erwartet: Wir wären für alles in unserem Leben selbst verantwortlich! Nicht die Wirtschaft ist Schuld an unserer Erwerbslosigkeit, nur unser mangelnder Erfolgswillen. Nicht der Ärztemangel ist daran Schuld, dass wir keinen Termin bekommen, sondern unserer mangelnder Behandlungswillen. Und zu unseren Angreifern hätten wir ja sagen können, dass wir das nicht wollen, dann hätten die gesagt: "Oh Verzeihung, habe ich gar nicht gemerkt." (Ich stelle mir gerade meinen Vergewaltiger dabei vor.) Ich bin vor Neid beinahe geplatzt, als eine Mitpatientin Unterstützung bekam, als sie um den Tod von Angehörigen trauerte, wenigstens dafür sind wir nicht verantwortlich. Aber ich soll für die Interpretationen von psych. Kranken verantwortlich sein: Wie schnell fühlen die sich belästigt oder angegriffen, nur weil man falsch guckt oder ins Blaue sagt, man sei wütend. Also wie denn nun? Oder steckt hinter obigem Satz ein esoterisches Menschenbild, demzufolge es jeder selbst in der Hand hat, ob er krank oder gesund ist? Wenn ja, darf so was in der Klinik überhaupt propagiert werden?
LaLeLu

Re: Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von LaLeLu »

Hallo liebe raeubertochter

Zitat von raeubertochter:

"Aber genau das wurde von uns in der Reha erwartet: Wir wären für alles in unserem Leben selbst verantwortlich! Nicht die Wirtschaft ist Schuld an unserer Erwerbslosigkeit, nur unser mangelnder Erfolgswillen. Nicht der Ärztemangel ist daran Schuld, dass wir keinen Termin bekommen, sondern unserer mangelnder Behandlungswillen. Und zu unseren Angreifern hätten wir ja sagen können, dass wir das nicht wollen, dann hätten die gesagt: "Oh Verzeihung, habe ich gar nicht gemerkt." (Ich stelle mir gerade meinen Vergewaltiger dabei vor.) Ich bin vor Neid beinahe geplatzt, als eine Mitpatientin Unterstützung bekam, als sie um den Tod von Angehörigen trauerte, wenigstens dafür sind wir nicht verantwortlich."



Darf ich Dich einmal fragen WO Du in der Reha warst?

Zieh Dir diesen Schuh bitte NICHT an!

Mir fehlen gerade die Worte!

Ganz liebe und tröstende Grüße
Liber
Beiträge: 1491
Registriert: 4. Jun 2006, 18:09

Re: Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von Liber »

Liebe Räubertochter,

das klingt heftig, aber ich könnte mir vorstellen, dass die eigentliche Absicht der Behandlung war, die Patienten dazu zu bringen, aus der depri-typischen Opfer-Haltung herauszukommen.

Denn solange ich mich als Opfer wahrnehme, habe ich kaum die Möglichkeit, etwas zu verändern, weil ich mich macht- und hilflos fühle.

Freilich ist es dafür unabdingbar, ZUERST das erlebte Leid wahrzunehmen und anzuerkennen. Das scheint in der Reha zu kurz gekommen zu sein.

Und der Weg ist schwer, anzuerkennen, dass ich früher wirklich Opfer war und Schweres erleben musste, dass ich HEUTE aber kein Opfer mehr bin, wenn ich selbst mich nicht dazu machen lasse.


Viele Grüße
Brittka
Kampfgemuese
Beiträge: 129
Registriert: 11. Mär 2010, 15:07

Re: Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von Kampfgemuese »

Hallo liebe raeubertochter,
was Du schreibst, lässt mir die Haare zu Berge stehen. Und ich finde es toll, dass Du merkst, dass Du mit dieser Art von Konfrontation nichts anfangen kannst und das auch äußerst.
Ich war auch in einer Reha, die mir höchst seltsam vorkam, um das einmal vorsichtig zu formulieren. Aber in dieser Reha habe ich tatsächlich etwas gelernt: mich zu wehren! Wenn Dir etwas nicht gefällt, ist das absolut legitim! Und wenn Du mit einer, puh, ich mag fast gar nicht „Therapieform“ sagen, weil mir das so absurd vorkommt – dann finde ich das auch legitim.
Womöglich war der Ansatz der, die Teilnehmer so zu „reizen“, dass sie sich wehren, ich weiß es nicht. Aber angesichts depressiver Erkrankungen halte ich das persönlich für den falschen Weg. Wir alle wissen ja, wie wehrhaft man als depressiver Mensch ist – so gut wie gar nicht.
Aber dass Du erkannt hast, dass die Aussagen unsinnig sind, finde ich einen guten Schritt in die richtige Richtung – Du wehrst Dich, womöglich zwar erst innerlich, aber Du wehrst Dich. Super!
Niemand muss Dinge tun, die andere von einem erwarten! Und Du musst auch keine Therapieform anwenden, die Dir nicht zusagt.
Tu das, was Dir guttut, das ist meiner Meinung nach der beste Weg. Mögen andere die Dinge auch noch so toll finden – nur wenn es für Dich ok ist, ist es auch wirklich ok!
Liebe Grüße
Elli
wennfrid
Beiträge: 799
Registriert: 15. Feb 2010, 08:01

Re: Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von wennfrid »

Hi Räubertochter
Daß der Patient an seiner Krankheit selber schuld sein soll, schockt mich richtig. Das einzige, was von Patienten verlangt werden darf/soll, ist die Bereitschaft von Veränderungen und daß er Hilfe annimmt. Vergangenes ist nicht mehr änderbar und vermutlich haben sich gute mit schlechte Zeiten abgewechselt. Ein Verarbeiten ist wichtig, damit nicht Ärger, Wut oder Hass die Gegenwart und Zukunft prägen. Von einer guten Reha oder gut ausgebildeteten Ärzte/Therapeuten setze ich die Kenntnisse voraus. Das Ziel muß doch sein, daß der Patient ein erfülltes Leben bekommt.
Viel Kraft und Energie

Fridolin
raeubertochter

Re: Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von raeubertochter »

Danke Euch allen für Euer Feedback! Opferrolle? Also, ich bin ja der Meinung, man begibt sich in eine Opferrolle, wenn man sich NICHT wehrt, sondern schluckt und man begibt sich eben in keine Opferrolle, wenn man gegen Unrecht ankämpft und dazu muss man es erst mal benennen. In der Klinik hatte ich den Eindruck von Bedeutungsumkehr der Worte. Also mein Pfarrer sagte neulich, man darf Leid Gott um die Ohren hauen, insbesondere solches, an dem man nicht wachsen kann. Juden haben nicht umsonst ne Klagemauer. Okay, wenn ein Arbeistloser sich hinsetzt und bemitleidet, wie schlimm die Wirtschaft ist, ändert das nichts. Aber nach gutem Abschluss und 200. Bewerbung wird man ja wohl die Schuld auch mal woanders als bei sich suchen dürfen. Wenn Ihr mit Opferrolle solche Einstellungen meint wie die meiner Grossmutter, die sich 20 Jahre nach dem Tod ihres prügelnden Mannes noch so benahm, als käme er gleich um die Ecke, dann gebe ich Euch Recht. Nur war es in der Klinik so, dass jede Gegenwehr, eine Zurückweisung von Falschanschuldigungen bspw., im Keim erstickt wurde mit der Begründung, man wolle sich in eine Opferrolle begeben.

Also, aus der Angehörigenarbeit weiss ich, dass Depressive und Borderliner wie ideale Opfer und Täter "zusammenpassen", das kann sehr heilsam sein, aber es muss saugut und mit viel Fingerspitzengefühl moderiert werden. Wenn aber Depressive die gleiche Härte zu spüren bekommen, wie sie vielleicht für Borderliner manchmal nötig ist, dann geht das voll nach hinten los.

Wo ich zur Reha war? Guckt mal unter www.klinikbewertungen.de unter Klinik Schwedenstein, Pulsnitz oder auch bei Burgenlandklinik. In der Wochenend-taz stand gerade eine Kolumne gegen Obrigkeitshörigkeit vor Medizinern...Vielleicht sollte man das Denktabu auch mal aufbrechen.
Kampfgemuese
Beiträge: 129
Registriert: 11. Mär 2010, 15:07

Re: Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von Kampfgemuese »

Hallo raeubertochter,

pffff… ich finde das so was von anmaßend von einigen Medizinern, was die sich herausnehmen. Gerade als depressiver Mensch ist man doch so unsicher und fast schon manipulierbar, eben weil man so schwach ist.

Ich hatte in meiner Reha-Klinik (Bad Hersfeld, findest Du auch bei klinikbewertungen.de unter „Klinik am Hainberg“) auch diverse Erlebnisse, die ich nicht noch einmal haben möchte.

Mir tun die Leute leid, die sich nicht wehren können. Explizit: nicht können. Wollen schon, aber die Kraft fehlt.

Wenn mir einer sagen würde „Sie begeben sich in eine Opferrolle“, dann würde ich wohl sagen „Tja, wenn das ihre Meinung ist – bitte! Ich sehe das anders!“

Boah, das regt mich voll auf! *grrr*

LG
Elli
wennfrid
Beiträge: 799
Registriert: 15. Feb 2010, 08:01

Re: Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von wennfrid »

Hi Raeubertochter
Ich melde mich nochmal und möchte meine Erfahrung mit dem "Umgang" mit Opfern, oder einfach Schwache, Kranke, usw mitteilen.
Der Depressive oder verängstigste Mensch ist nicht in der Lage, sich für seine Belange einzusetzen. Fast alle leiden unter Angst, dazu ist die Persönlichkeit und der Selbstwert kaum oder nicht vorhanden. In einem Machtspiel ist der Patient als Verlierer vorprogrammiert, egal ob er eine richtige oder falsche Sichtweise hat. (Was ist richtig, was ist falsch?) Das Ziel, in Reha oder psychsomatischen Kliniken sollte doch sein, daß der Kranke aus seinem Loch rauskommt, dazu Hilfe zur Selbsthilfe und selbstverantwortliche Lebensgestaltung erlernt. (Sonst brauch ich keine Therapie.) Dazu ein Selbstvertrauen, um im Alltag die anfallenden Probleme zu beseitigen. Diese Änderung der Lebenseinstellung bedarf viel Geduld. Diese Ziele erreiche ich nur, wenn die Ärzte, Therapeuten oder wer immer in einer Klinik tätig ist, den Patienten aufbaut und nicht als Opfer einordnet. (Leider werden in unserer Leistungsgesellschaft Ängste und Depressionen gefördert.)
Ich war 2 mal in der psychsomatischen Klink in Bad Grönenbach und ich denke gern an diese Zeit.
Viel Kraft und Energie

Fridolin
himmelskörper
Beiträge: 778
Registriert: 10. Jul 2009, 14:13

Re: Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von himmelskörper »

Hallo Raeubertochter,

als ich in der Klinik war, da versuchte man uns auch von der Opferrolle wegzubekommen, dass man sich nicht jeden Schuh anziehen soll.

Die Therapeuten hatten es verdammt schwer.

Jede Hilfestellung, Erfahrungen die weitergegeben wurden, wurden mit ja aber....kommentiert.

....ja, aber ich kann halt nicht anderst...
....ja, aber mir fehlt die Kraft....
.... ja, aber ich hab die Möglichkeit nicht...
.... ja, aber bei mir ist das so und ich kann das nicht ändern.....weil...
.... ja, sie reden leicht, aber ihre Lösungen, Denkansätze sind für mich nicht zu verwirklichen......weil....
.... ja, machen sie das mal mit was ich erlebt habe.....

usw. usw.

viele habe alles abgeblockt, nichts angenommen, gesuhlt in ihrer Opferrolle, für die Therapeuten bestimmt frustrierend.

Dann hatten wir mal eine Therapiestunde, die war ganz anderst, die ersten wären am liebsten nach fünf Minuten schon aufgestanden und gegangen.

Die Thera hat alles verdreht, sie hat uns bestätigt in unserer Opferrolle, das wir alles so gewollt haben, das es keine Möglichkeit gibt da wieder raus zu kommen,
das wir selbst dafür verantwortlich sind, das wir Schuld haben für unsere Probleme....... und und und.


Was glaubst du, wie wir uns gewehrt haben und dagegen gesprochen haben.....
....wir sind nicht Schuld an unserem Leid...
.... natürlich gibt es Hilfen...
....wir wollen in keine Opferrolle gedrängt werden...
.... wir haben die Fähigkeit, das wir das alles schaffen...
usw. usw.

Die Therapiestunde war ein Schock für uns, aber so heilsam.
Uns wurde vor Augen geführt, wie wir sind, wie wir bei anderen rüberkommen, wie negativ wir denken.

Diese Stunde hat uns gezeigt, das wir doch die Kraft haben aus unserer Depri oder sonstigen Störung wieder rauszukommen.

ABER, wir müssen es wollen.


Vielleicht war das auch ein Plan in deiner Therapie, euch von dieser Meinung/ Haltung wegzubringen.


Alles Liebe sedna


nachteule
Beiträge: 126
Registriert: 2. Dez 2004, 09:02

Re: Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von nachteule »

>>ABER, wir müssen es wollen.<<

Richtig, genau darum geht es.

Solang ich in der Opferrolle verharrte (und das hab ich lange gemacht) stagnierte meine Depression, nichts wurde besser.

Es war so, dass ich keine Verantwortung für mich übernehmen wollte. Solange ich in der Rolle des armen Opfers war, dem es schlecht geht waren andere zuständig, denn ich "konnte" ja nicht, so schlecht, wie es mir ging.

Heute sage ich nicht mehr "ich kann nicht", sondern stehe ggf. zu meinen Gefühlen/Wünschen und sage "Ich WILL nicht". Nicht "Ich kann nicht dies oder jenes tun, weil es mir so schlecht geht", sondern "Ich WILL dies oder jenes nicht tun, weil es mich überfordern würde" z.B..
ICH übernehme die Verantwortung. Und seitdem geht es mir deutlich besser, ich bin fast symptomfrei.

Und ganz ehrlich, als ich bspw. in Hartz IV gelandet war, war ich sicher nicht selbst schuld daran, aber was bitte hätte es mir gebracht, über unsere Wirtschaftslage zu schimpfen und dieser alle Schuld zu geben?? Gar nichts, das hätte mich keinen Schritt weiter gebracht!
Das sind für mich destruktive Denkweisen, die mich in der Depression festhalten.
Nadalien
Beiträge: 112
Registriert: 7. Okt 2008, 17:33

Re: Selbstzuschreibungstheorie

Beitrag von Nadalien »

Guten Tag!

Richtig: eine Verhaltensänderung und positive Gedanken können einiges bewirken, doch ich denke, das geht nicht von heute auf morgen. Lang Erlerntes braucht Zeit, um es zu verlernen (die Selbstgeiselung, wenn man so will), und durch völlig Neues zu ersetzen. Was für andere selbstverständlich ist, kommt uns nicht so leicht in den Sinn.
Darum sind wir nicht träge oder faul oder schlecht oder ängstlich, weil wir es so wollen!!!! Wer will das schon?????

Ich denke, wir haben uns viel Schlechtes anhören müssen, über uns, über die Gesellschaft, oder sonstwas, oder etwas Schlechtes tun müssen. So wie man immer wieder ein Lied hört, und einen Ohrwurm bekommt. Ohne Frage, dafür können wir nichts. Irgendjemand hat uns dieses Lied beigebracht. Depressiv zu sein ist auch nur eine Reaktion!!! Andere hatten mehr Glück: sie haben andere Lieder gehört, die sie fröhlich vor sich hinpfeifen können.

Ich denke: ja, irgendwann ist man selbst verantwortlich für das, was man tut. Empfindliche Menschen leiden unter Reue. Doch das Leben ist ein Spiel von Try and Error. Fehler macht jeder. Besonders wenn die Grundmelodie nicht stimmt. Also, meiner Meinung nach dauert es lange, bis Gedanken zu Taten werden... also auch lange, bis man sein Verhalten (Selbstverantwortung) ändert. Sich-selbst-vertrauen.... sehr schwer, wenn der Selbstzweifel da ist.

Dennoch glaube ich, dass in jedem von uns jemand lebt, der sich selbst vertraut. Das müssen wir lernen. Versuchen und wenns schief geht nochmal und nochmal, wenigstens man hats versucht... neue Seiten entdecken, etwas, was Normalos jeden Tag machen...
Zeit sich kennenzulernen.

Die gesamte Verantwortung zu tragen, für das wie wir geworden sind, das geht nicht! Nur zu erkennen, dass wir auch anders können, das ist es. Im Grunde sollten wir die Aufforderung, selbst Verantwortung für uns zu übernehmen, als Kompliment sehen: es wird uns von einer Instanz (z.B.Klinik) zugetraut! Das ist etwas, was viele von uns noch nicht erlebt haben. Doch letzten Endes, von Rechts wegen, sind wir mündige Bürger, also im Grunde wie alle anderen auch. Wir müssen nur den Sender ändern und einen anderen Empfang reinkriegen!

Grüße, Nadalien
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