nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

otterchen
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nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von otterchen »

Guten Morgen zusammen,

beim Morgenkaffee bin ich ein wenig ins Philosophieren gekommen
und denke gerade, dass meine Erkenntnis, zu der ich gerade gekommen bin, wichtig ist und ich sie mit anderen teilen möchte.

Es geht um das Nachtragen, um nicht vergeben/verzeihen/vergessen können.
Natürlich sind Dinge geschehen, die schrecklich sind - bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger.
Doch ich glaube, im Kern ist es oft so, dass wir den eigentlichen Vorwurf UNS SELBST machen.
Ich bin - durch mittlerweile sehr lange Beschäftigung mit diesem Thema - an dem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr allein den Eltern die Schuld an meiner Misere gebe, sondern mir selbst.
Ich schäme mich dafür, dass ich sie nicht lieben konnte, ich halte mich für blöd, dass ich gewisse soziale Kompetenzen nicht erworben habe, ich kritisiere mich dafür, dass ich mir keine Hilfe geholt habe, ich verachte mich dafür, dass ich niemals aufbegehrt und mich getraut habe, den Konflikt offen auszusprechen und gegen sie anzugehen.

Das alles, was ich seit meiner Kindheit mit mir herumschleppe und was vermeindlich gegen meine Eltern ging, richtet sich also jetzt gegen mich selbst. Gegen das Kind.

Geht es nicht noch anderen so? Jetzt mal nicht nur auf das Kind bezogen, das wir einmal waren - aber sind wir nicht sauer auf einen Mitmenschen, weil der uns was angetan hat - aber eigentlich doch sauer auf uns selbst, weil wir schwach waren?
Und indem wir daran festhalten, mit dem Finger auf andere zu zeigen, überdecken wir damit nicht den eigentlichen Konflikt mit uns selbst? Der andere kann das, was vorgefallen ist, nicht ungeschehen machen. Aber wir könnten lernen, uns selbst zu verzeihen.
Nachsichtig sein, dass wir nicht schlagfertig waren.
Verstehen, dass wir soviel Angst hatten, dass wir nicht anders konnten.
Vergeben, dass wir noch nicht genug gelernt hatten, als dass wir uns hätten behaupten können.
mein gelerntes Sammelsurium: https://otterchenblog.wordpress.com/
Chiron
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von Chiron »

Guten Morgen Otterchen,

http://www.zeitzuleben.de/blog/entry/43 ... chtig.html

auch ich kämpfe wie wohl ganz viele hier mit diesem Thema.
Inzwischen habe ich gelernt welche Verhaltensweisen bei mir zu gewissen Reaktionen beim Gegenüber führten.
Das macht es etwas leichter, aber verzeihen kann ich noch lange nicht.
Und vergessen schon gar nicht. Bin da wie ein Dickhäuter.
Ich vergesse nie die guten Taten anderer Menschen, ebenso wie die schlechten.

Vielleicht helfen die Tipps aus dem o.g. Link.
Werde es mal versuchen...

Liebe Grüße,

Chiron
"Was mich nicht umbringt, macht mich noch stärker."
tomroerich
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von tomroerich »

Es geht um das Nachtragen, um nicht vergeben/verzeihen/vergessen können.
Natürlich sind Dinge geschehen, die schrecklich sind - bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger.
Doch ich glaube, im Kern ist es oft so, dass wir den eigentlichen Vorwurf UNS SELBST machen.
Ich bin - durch mittlerweile sehr lange Beschäftigung mit diesem Thema - an dem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr allein den Eltern die Schuld an meiner Misere gebe, sondern mir selbst.
Ich schäme mich dafür, dass ich sie nicht lieben konnte, ich halte mich für blöd, dass ich gewisse soziale Kompetenzen nicht erworben habe, ich kritisiere mich dafür, dass ich mir keine Hilfe geholt habe, ich verachte mich dafür, dass ich niemals aufbegehrt und mich getraut habe, den Konflikt offen auszusprechen und gegen sie anzugehen.

Hallo Otterchen,

ja ganz klar, sich selbst zu beschuldigen ist die eigentliche Folge dieser Einflüsse. Das Beschuldigen der anderen ist dabei nur ein Versuch, das eigene Problem dabei nicht spüren zu müssen und es nach außen zu verlagern.

Einflüsse, die dich seelisch in eine selbst-ablehnende Haltung zwingen, erzeugen Angst und Schuldgefühle. Zunächst erscheint es als Lösung, den ganzen Schmerz an die Personen zu delegieren, die ihn verursacht zu haben scheinen. Aber das eigentliche Problem ist eben nicht, dass jemand anderes dir weh getan hast, sondern dass du geglaubt hast, was man dir vermittelt hat. Und deshalb fühlst du dich schuldig. Du glaubst, dass überhaupt irgendjemand Schuld haben müsse und wenn es die anderen nicht sind, dann musst du es sein.
Das gleiche geschieht doch z.B. auch, wenn eine Partnerbeziehung zerbricht. Man will dem anderen die Schuld zuweisen, weil man sonst selbst die Last tragen müsste. Man streitet sich erbittert um diesen Punkt, wer denn nun eigentlich verantwortlich und der Böse ist. Die Überzeugung, dass es ja jemand sein muss, ist sehr stark. Aber eine Lösung ist erst in Sicht, wenn man sich davon löst, dass eine Schuld überhaupt existiert. Schuld fordert immer Strafe. Sie gibt niemals Ruhe, bevor die Strafe nicht geschieht.

Erst wenn man einsieht, dass ganz alleine die Verletzung selbst das Problem ist und dass sie durch die Überzeugung aufrecht erhalten wird, sie sei gerechtfertigt und müsse sich fortsetzen, kann man darangehen, diese Überzeugungen aufzulösen und für nichtig zu erklären. Die Schuldzuweisung ist das Kittel, dies zu verhindern weil sie die Verletzung immer wieder für wirklich erklärt.

LG

Thomas
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paradiddler
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von paradiddler »

Vielen Dank für diesen Thread und diese Gedanken, die ich eins zu eins auf das Ende meiner Beziehung und mein nunmehr einjähriges Grübeln beziehen kann. Ich mache meiner Ex, aber in Wirklichkeit mir, so viele Vorwürfe. Leider schaffe ich es nicht, meine Schuldgefühle abzulegen. Dein Thread hat mir sehr geholfen heute Abend. Auch die Anmerkungen von Thomas finde ich (wie immer) sehr hilfreich und wahr.

Mehr kann ich gerade nicht schreiben, mir geht's nicht so gut.

St.


---

Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
AiméeSophie
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von AiméeSophie »

Guten Abend.

Die Herausforderung besteht doch darin die worte und sätze, die wir gesagt bekommen haben nicht auf uns selbst zu übertragen und uns schließlich selber zu achten, auf das Kind in uns auf zu passen, sie zu führen, bei ihr sein. und sich genau das zu zu gestehen, was man ungerne zeigt, seine schwäche. Akzeptieren, dass man zu der bestimmten Zeit nicht anders handeln konnte. sonst hätten wir es doch anders gemacht!!!

Liebe Grüße und gutes Vorankommen!

Übrigens hab ich gerade aus dem <fenster geschaut und den Schnee beobachtet, Schneebälle geworfen, das war toll! Schnee ist zart und weich!
Babi
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Registriert: 23. Jul 2009, 17:07

Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von Babi »

Hey Otterchen,
du sprichst mir aus der Seele.
Ich habe auch oft Schwierigkeiten, mir selbst zu verzeihen, aber das ist wichtig.
Und ich ärgere mich mehr über mich selbst als über andere, wenn etwas passiert, das ist so.
Aber das ist falsch, man muß sich selbst begreifen lernen, verstehen, warum man so handelt wie man handelt und warum man so ist wie man ist, man muß sich selbst akzeptieren lernen. Das finde ich am wichtigsten.
Meine Therapeutin hat gesagt, ich soll nicht so streng mit mir selbst sein. Es hat immer einen Grund, daß man sich so verhält wie man sich eben verhält. Man darf sich dafür nicht veruteilen, das ist ganz falsch, meinte meine Therapeutin.
Das sehe ich auch so.
Ich finde dieses Thema sehr gut, danke Otterchen.
Man sieht nur mit dem Herzen gut, das wesentliche ist für das Auge unsichtbar
(Exupery)
:) ;)
mystery60
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von mystery60 »

Hallo Otterchen,
hallo Alle,

da ist Dir was richtig gutes durch den Kopf gegangen heute morgen.

Ich kann alles was hier gesagt wurde nur bestätigen. Ja, ich sage mir auch, warum konntest Du als Kind nicht anders reagieren, warum hast Du so viel erduldet, warum kamst Du in gewisser Weise in eine "Opferrolle" und warum schleppst Du diesen Rucksack bis heute mir Dir herum, etc.

Klar kann man sagen, man konnte in der jeweiligen Situation nicht anders, sonst hätte man es anders gemacht. Aber wenn man dann weiter denkt, bedeutet das ja auch, dass auch die anderen Beteiligten (oft Eltern) nur das gemacht haben was sie konnten - so brutal das auch klingen mag. Aber hätten sie anders gekonnt, hätten sie es vielleicht auch nicht verbockt. Damit wird mir klar, verzeihe ich mir selbst, muss ich auch ihnen verzeiehn UND kann ich ihnen nicht verzeihen, wie soll ich mir dann verzeihen.
Ich kann ja nicht sagen, sie waren erwachsen, sie hatten die Macht über mich, sie hätten es anders machen können, sie hätten Handlungsalternativen gehabt, etc. - hatten sie das wirklich? Hatten sie mehr Alternativen als ich selbst in der Situation?

Was gut zu der Situation passt ist aus meiner Sicht das Bild vom inneren Kind. Indem man sich die Kindheit oder die traumatisierende Situation quasi als heute Erwachsener von außen anschaut und sich fragt, hat dieses Kind in dieser Situation wirklich eine Alternative, hätte es die Situation in der Hand, hätte dieses Kind etwas tun können - bei seiner ganzen Vorgeschichte und den Lebensumständen - oder lief es eben so ab, weil es nicht anders ablaufen konnte?
Dann bleibt doch nur, das Kind zu trösten. Man kann ihm keinen Vorwurf machen, d.h. ich kann mir als Kind keinen Vorwurf machen, ich hätte nichts anderes tun können, denn ich war ich mit allen Stärken und Schwächen und aus der Situation heraus wurde ich so wie ich heute bin, mit dem ganzen Rucksack, den ich mittrage. Also kann ich mir selbst auch dafür keinen Vorwurf machen. Ich kann mir auch verzeihen, wenn ich mir selbst einen Vorwurf gemacht habe - aber vergessen kann und will ich nicht. Vergessen kann man nicht bewusst, das passiert oft nur und ist oft auch nur Abwehr gegen etwas, was ich nicht zulassen kann, was mich überfordert. Also bin ich froh, die Dinge nicht zu vergessen. Ich muss aber auch akzeptieren, dass die "Täter" nicht anders konnten - das ist viel schwerer und ihnen verzeihen, das gelingt eben auch nur schwer. Aber letztlich müsste man auch ihr inneres Kind sehen und dann wird die Situation schon wieder eine andere.

Und etwas anderes passt dazu auch. Dass wir uns heute über Dinge und andere Menschen aufregen, weil sie bei uns etwas auslösen. Und dass sie das tun liegt nur zu einem Teil an deren Verhalten, zum anderen aber an uns, an unsere Lerngeschichte, an unserem Rucksack. In der Klinik wurde gesagt, lasst nicht andere auf Euren Knopf drücken (Knopf als Auslöser für bestimmte Gefühle, wie Hass, Wut, Trauer, Resignation, ....), sondern macht Euch bewusst, warum der andere es wieder geschafft hat, auf Euren Knopf zu drücken. Gut ist es, wenn man diese Dinge kennt und lernt, dass andere es nicht mehr schaffen, diesen Knopf zu drücken und etwas in uns auszulösen, sondern dass wir als Schranke davor stehen. Dass wir entscheiden, ob wir auf diesen Knopf drücken lassen, bzw. nur wir selbst in der Lage sind, diesen Knopf zu drücken.

Es geht also darum, für sich selbst einzustehen. Das ist ja auch die Arbeit mit dem inneren Kind. Man soll als Erwachsener Verantwortung für dieses teilweise hilflose und schutzlose Kind übernehmen, dass Verletzungen erlitten hat. Man soll ihm versichern, dass man für es da ist. Das heißt aber in meinen Augen nichts anderes, als dass man für seine Rechte einsteht und für sich als Person, dass man sich gegen Verletzungen/Verletzungsabsichten zur Wehr setzt und für sich selbst sorgt. Das sagt sich zwar recht leicht, aber die Umsetzung dessen ist im Prinzip der Weg zum Heil-werden.
Daran knabbere ich aber auch: wie lernt man, für sich selbst einzustehen, sei es gegenüber den Eltern, für die man oft immer noch Kind ist, denen man noch einiges sagen will, die aber vieles nicht mehr wissen und wissen wollen, verleugnen, verdrängen,.....

Aber woher nehme ich den Mut und die Kraft, jeden Tag für jede Situation für mich einzustehen? Man stelle sich vor, überall treffen nur solch selbst-bewußte Leute aufeinander, keiner ordnet sich einfach so unter, jeder pocht auf seine Interessen, was gäbe das am Ende .... die besten Lösungen oder "Mord und Totschlag"?

Fazit für mich - nach dem ersten durchdenken - ist, dass es einfach die Aufgabe für mich ist, jeden Tag möglichst so zu leben, selbst-bewußt, für mich einstehen, für mich sorgen, so gut ich es kann. Das letzte ist aber ganz wichtig: so gut wie ich kann - besser kann ich nämlich nicht und deshalb gibt es wiederum keinen Grund, mir Vorwürfe zu machen, wenn ich nicht so gut für mich sorgen konnte, wie ich eigentlich gewollt hätte. Also auch hier: "nicht so streng mit sich sein" sondern sich selbst mit Verständnis und Fürsorge begegnen und erkennen, dass man nur so kann wie man kann und dass man vielleicht am kommenden Tag eine neue Chance hat oder es besser machen kann. Das ist die Arbeit, die ich vor mir liegen sehe, die einzig wichtige, die, die sich lohnen wird, für mich und damit auch für andere - scheint mir eine wirklich sinnvolle und lohnende Arbeit zu sein, also auch in gewisser Weise der Sinn in meinem Leben. Dafür lohnt es sich, an sich zu arbeiten. Wenn nicht dafür, wofür dann?

Dafür wünsche ich mir und Euch Mut, Zutrauen, Geduld, Verständnis, Fürsorge und ..... einfach nicht aufgeben!

Einen schönen Gruß
TG
Chiron
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von Chiron »

Guten Morgen Im Wind,

<<Akzeptieren, dass man zu der bestimmten Zeit nicht anders handeln konnte. sonst hätten wir es doch anders gemacht!!!>>

diese Aussage finde ich mehr als tröstlich.
Sie erinnert mich an Selbstverzeihen und ein Stück an Selbstakzeptanz.

Liebe Grüße,

Chiron
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Chiron
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von Chiron »

Liebe Tiefgrund,

Du hast für mich sehr wertvolle Sichtweisen geschrieben. Danke dafür.

Alles Liebe,

Chiron
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Chiron
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von Chiron »

Angeregt durch den Thread-Titel habe ich angefangen mein E-mail-Postfach aufzuräumen.
Naja, es lag wohl eher an der Notwendigkeit.
Es quillte über und ich musste ein paar Mails aus der Vergangenheit löschen um neue in mein Leben zu lassen.

Beim Lesen und Erinnern habe ich gemerkt wie weit ich mich verändert habe im Laufe der vergangenen Jahre. Wie viel Leid und Schwierigkeiten ich hinter mir lies.
Und ganz wichtig, ich habe verziehen. Erlebnisse sind einfach abgehakt auf dem Weg zu mir selbst.

Was so ein erzwungenes Löschen von Post doch alles bewirken kann.

Vielleicht könnt Ihr auch einen Teil der Vergangenheit abhaken, erkennen welch großes Kraftpotential in jedem von uns steckt und dadurch ein Stück weiter unabhängig von anderen werden.

In diesem Sinne alles Liebe und Gute,

Chiron
"Was mich nicht umbringt, macht mich noch stärker."
tomroerich
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von tomroerich »

Hallo Tiefgrund,

die Einsicht, dass jeder in einem bestimmten Moment einfach das tut, was er für richtig hält, ist auch für mich eine Schlüsselerkenntnis gewesen. Sie bedeutet, dass Dinge eher einfach geschehen, anstatt dass jemand sie geplant in die Welt setzt.

Da gibt es Überzeugungen, die das Handeln prägen. Und die können einfach erst im Nachhinein als katastrophaler Missgriff verstanden werden. Als aber gehandelt wurde, erschienen sie als gute Idee. Auch erziehungsmäßig gab und gibt es solche Überzeugungen. Mich band meine Mutter schon als Kleinkind ans Tischbein weil sie überzeugt war, dass man Kinder brechen müsse. Tat sie es, um mir zu schaden? Nein. Sie war einfach nur das Opfer eigener Prägungen und eines Zeitgeists.

Wenn wir daran für uns selbst und für die, die nach uns kommen, etwas ändern wollen, müssen wir sogar verzeihen. Es ist der einzige Weg, das, was einmal war, nicht mehr als eine Speerspitze gegen uns zu sehen. Wo ist diese Speerspitze heute? Nur in unseren Gedanken. Heute sind wir es selbst, die die Speerspitze immer wieder gegen uns selbst richten - durch unsere Gedanken, in denen wir aufrecht erhalten, was längst gewesen ist. Wir werden sie so weitertragen, wir werden zulassen, dass sie unser Leben vergiften und das unserer Angehörigen und Freunde gleich mit.

LG

Thomas
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Chiron
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von Chiron »

Thomas,

klasse Einsichten.

Bin grad dabei meine Speerspitzen zu vertreiben.

Grüße in die alte Heimat,

Chiron
"Was mich nicht umbringt, macht mich noch stärker."
mystery60
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von mystery60 »

Hallo,

eine Nacht darüber geschlafen finde ich immer noch, dass dieser thread und die Inhalte eine ganz entscheidende Sichtweise darstellt und wenn ich auch in mir so ein gewisses "Grummeln" habe, ob es nicht zu einfach ist, zu sagen, man vergibt - sich und anderen - und dann ist man frei oder zumindest freien, denke ich doch, dass dies der entscheidende Ansatz für mich ist, mein Leben selbst zu sehen und daran zu arbeiten.

Ich sagte,
>für mich einstehen, für mich sorgen, so gut ich es kann

Dann ist für mich die Folge, dass es darum geht, seine Kompetenzen zu erweitern, um besser für sich sorgen, besser für sich einstehen zu können. Da kommen mir Überlegungen in den Sinn, die ich an anderer Stelle auch immer wieder hatte, wie:
- was kann mir wirklich schaden?
- welcher konkreten Gefahr bin ich wirklich ausgesetzt?
- was bedroht, ängstigt mich?

Eigentlich - so muss ich erkennen - ist das gar nicht so viel. Und die Verwendung dieses Wortes "eigentlich" zeigt die innere Abwehr und diese ist ggf. der hemmende Teil meines Selbst, die eingefahrene Spur, den Rucksack den ich mitschleppe, die inneren Schaltungen, die so oft automatisch einrasten.

Also: es ist wirklich nicht so viel. Gut, Angst vor dem Tod und vor Krankheit, das mag ja angehen, aber auch da ist doch wahr, dass jeder sterben muss, dass mir wohl bewusst ist, dass ich nur noch eine Restzeit habe, die mir bleibt, deren Länge ich nicht weiß und damit deutlich wird, dass es nur darum gehen kann, diese Zeit mit Sinn zu füllen und "ein gutes Leben zu leben".

Andere Dinge verlieren weit mehr ihren "Schrecken", der Job, das Ansehen in der Familie, der Status, oft nur bezogen auf Kollegen, Nachbarn, Bekannte oder seine Rolle, die man gespielt hat, vielleicht für Verwandte, Freunde, die Familie.

Also, was schadet es mir wirklich, wenn ich einen anderen Job mache, weniger Geld verdiene, beim Autokauf oder wo auch sonst nicht mehr "mithalten" kann (und will)? Was ist Status, Ansehen, etc. - das sind alles Dinge, die von außen kommen, die ihren Wert nur in der Anerkennung durch andere haben. Wichtiger ist doch, die Anerkennung, die ich mir selbst gegenüber bringe.

Mich anzuerkennen, darum geht es, mir selbst zu sagen, so wie Du jetzt Dein Leben ausgerichtet hast, hast Du gute Chancen ein "gutes Leben" zu führen.

Was sind dann die Aspekte der Arbeit an sich? Für mich ist es zunächst einmal das Nachdenken über sich, sich klar werden, wer man ist, wer man wirklich ist, ohne Bezug von außen, ohne Ansehen und Rollenspiele und die Frage, was ich will. Was will ich für ein Leben haben, was soll sein, was brauche ich dafür?

Was man braucht ist eine materielle "Grundsicherung", eine Krankenversicherung wäre nicht schlecht aber ansonsten ........

Bleiben die Fragen, wie man die Kraft aufbringt, weiter an sich zu arbeiten, selbst zu sein in möglichst allen Lebenslagen und zu jeder Zeit. In keine Rollen mehr schlüpfen, sich nicht von anderen "manipulieren" oder "lenken" zu lassen, für sich selbst einzustehen. Das ist nicht immer einfach, weil wir über Jahre in einem sozialen Gefüge "funktioniert" haben. Veränderung wird wahrgenommen.

Der Antreib - so hoffe ich - wird für mich die Erkenntnis sein, dass es einfach der richrtige Weg ist, für sich selbst einzustehen und für sich zu sorgen. Wenn hier und da die Kraft nicht dazu reicht, wenn man nicht den Mut hat, sich zu wehren oder was sonst, dann muss der Antrieb trotzdem weiter zu machen darin bestehen, dass ich weiß, dass der Weg richtig ist und dass ich mich durch Rückschläge oder Hindernisse nicht davon abbringen lassen darf.

Schon mal gut, wenn das im Kopf d´ rin ist. Umsetzen heißt für mich auch, bewußter leben, sich mehr bewußt machen, Zeit nehmen, Wahrnehmen, verstehen lernen, was ich denke, was ich sage, was ich tue. Nur wenn ich mir Zeit dafür lasse, kann ich auch eine bewußte Entscheidung treffen, wenn nicht, funktioniert weiter die innere Schaltung und es wirkt der alte Automatismus. Lerne ich wirklich um, wird dies auch meine innere Schaltung beeinflussen, die Weichen können neu gestellt werden und schweres Gepäck aus meinem Rucksack wird überflüssig und kann rausgeschmissen werden (insoweit im Sinne eines "das kann ich jetzt vergessen" im thread-Titel von Otterchen).

Positiv dabei ist für mich auch, dass es bedeuten kann, "seine Träume zu leben", etwas wagen, um etwas zu erreichen, was man sich bisher nicht getraut hat. Sich über die eigenen Stärken klar zu werden und diese bewusst zu nutzen, für sich und andere. Neue Wege gehen, neue Wege denken, die bisher gar nicht in der eigenen Vorstellung waren - nach dem Motto "das Leben bietet unendlich viele Möglichkeiten".

Dabei geht es auch um eine kritische Prüfung und ggf. Neubewertung der eigenen Überzeugungen. Waren es nicht die alten Glaubenssätze, die Regeln der Eltern, nach denen man bisher sein Leben gelebt hat? Man hat mitgespielt im großen Spiel, verschiedene Rollen angenommen, verschiedene Masken getragen, den Erfolg gesucht, eine Familie gegründet, ein Haus gebaut, was auch immer aus der jeweiligen individuellen Prägung, die Selbstbestätigung - aber eben immer an den Maßstäben von außen.

Ich kann mir dabei gut vergeben und verzeihen, dass ich der "Wurst an der Schnur" so lange nachgelaufen bin, wie, wann, wo und von wem hätte ich es auch anders lernen sollen? Für mich macht die Depression hier ganz klar ihren Sinn - weil sie aufzeigt, he - da läuft was falsch bei Dir!

Ohne dieses STOP meines Körpers hätte ich weiter gemacht wie bisher, keine Frage. All das, was mir zunächst und vielleicht auch noch Angst bereitet (hat), den Job nicht mehr machen zu können, aus dem Arbeitsleben ausscheiden zu müssen, den daran gebundenen Status und die finanzielle Leistungskraft zu verlieren, zeigen sich jetzt eher als Chance. Die Möglichkeit einer Neubesinnung, einer Bewertung der Wichtigkeit für mein eigenes Leben. Die Chance die Richtung oder den Weg zu ändern, ein neues Ziel zu suchen und sich erst einmal bewußt zu machen, wo man steht, wer man ist und wohin es von hier aus gehen soll.

Da vergebe ich meinem Körper, besser noch ich bin dankbar, dass er mich von dieser Lebensspur herunter geholt hat. Würde ich das alte Leben als das richtige ansehen müsste es mir jetzt darum gehen, mich wieder dorthin zu bringen. Aber das ist mir so klar wie sonst kaum etwas: dahin zurück will ich nicht, das macht mich kaputt, das tut mir nicht gut, das kann nicht mein Weg sein.

Wohin es mich ab heute tragen wird, wohin mein Weg gehen wird, wer weiß .....
Allein das Gefühl zu haben, auf dem richtigen Weg für sich zu sein, macht das Leben um vieles leichter.
Das wünsch ich Euch!

Gruß
TG
otterchen
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von otterchen »

Hallo Ihr Lieben,

bin positiv überrascht, welch tolle Gedanken hierbei hervorgekommen sind.

Am besten, um mir selbst verzeihen zu können, wird wohl sein:
wie, wann, wo und von wem hätte ich es auch anders lernen sollen?

Da hat vieles an mir nicht gestimmt - aber ich konnte nicht anders.
Da hilft das ganze Hadern nicht - ich war ein Kind, und meine Weichen wurden von anderen gestellt.

Aber ich möchte das Ganze auch ins Hier und Jetzt transportieren: immer, wenn ich meine, jemandem Vorwürfe machen zu müssen, schaue ich zunächst auch mal bei mir nach.
ABER: immer dann, wenn ich mir selbst gegenüber zu kritisch bin, schaue ich auch nach, inwiefern das wirklich alles alleine bei mir liegt.
"Ich sollte anrufen" wäre z.B. eines dieser Dinge. Wieso eigentlich? Der/die andere ruft ja auch nicht an. Also schraubt sich die Selbstkritik schon wieder etwas runter.
mein gelerntes Sammelsurium: https://otterchenblog.wordpress.com/
tomroerich
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von tomroerich »

"Ich sollte anrufen" wäre z.B. eines dieser Dinge. Wieso eigentlich? Der/die andere ruft ja auch nicht an. Also schraubt sich die Selbstkritik schon wieder etwas runter.

Kann man auch sagen, es mindert das Schuldgefühl?
Hast du nicht Angst vor der Selbstbeschuldigung, wenn du nicht anrufst und wird die dadurch gemildert, dass du auch im anderen Schuld siehst?

Sicher, man fühlt sich dadurch entlastet. Aber es ist der gleiche Vorgang, wie wenn ich anfange, Gegenvorwürfe zu machen, wenn man mir etws vorwirft. Das Gefühl der Schuld, das ich in mir habe, wird dadurch nur beruhigt aber nicht beseitigt.

Kannst du dir vorstellen, dass es so etwas wie Schuld garnicht gibt und dass sie verschwindet, wenn man aufhört, verletzt zu sein? Schuld ist nur der direkteste Ausdruck von Selbstablehnung und nur die ist real.
Wenn man damit aufhört, Schuld als wirklich anzuerkennen, lehnt man es ab, die eigene Verletzung weiterhin aufrecht zu erhalten. Deshalb ist Vergebung heilend.

LG

Thomas
Betroffene für Betroffene

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GE
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von GE »

Hallo otterchen,

"Ich bin - durch mittlerweile sehr lange Beschäftigung mit diesem Thema - an dem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr allein den Eltern die Schuld an meiner Misere gebe, sondern mir selbst.
Ich schäme mich dafür, dass ich sie nicht lieben konnte, ich halte mich für blöd, dass ich gewisse soziale Kompetenzen nicht erworben habe, ich kritisiere mich dafür, dass ich mir keine Hilfe geholt habe, ich verachte mich dafür, dass ich niemals aufbegehrt und mich getraut habe, den Konflikt offen auszusprechen und gegen sie anzugehen."

Ich habe früher auch immer gern die Schuld bei meinen Eltern gesucht, ich hab mich fürchterlich mit ihnen gezankt und sehr gerne provoziert. Also Konflikte provoziert, die dann aber trotzdem nicht gelöst wurden, sondern im Gegenteil sich aufsummierten.
Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass unsere Eltern genau so unter ihren Eltern gelitten haben wie wir es heute tun. Ich weiß nicht wie sich ein Krieg verarbeiten lässt. Meine Mutter ist Flüchtling, sie hat von Menschenmengen erzählt, die auf dem Marktplatz zusammengetrieben wurden, in die dann wahllos hineingeschossen wurde. Oder Tiefflieger, die Frauen und Kinder auf den Feldern abgeschossen haben, usw... .
Also das, was der Großteil dieser Generation erlebt hat. Es sind so viele Faktoren, die eine Rolle spielen könnten.

Schuld oder nicht Schuld - und vorallem wer? Das ist so sinnlos, im Prinzip ist es sowieso egal.
Und selbst wenn es irgendwo irgendwelche Schuldigen gibt, würde man nicht aufhören sich selbst schuldig zu fühlen.

Es ist anstrengend, ich fühle mich immer schuld, selbst dann wenn es mich noch nicht einmal etwas angeht. Es braucht nur morgens mein Chef zur Tür herein zu kommen und miesgelaunt auszusehen. Reicht schon, liegt bestimmt an mir. Ich bin ein Looser, eine Niete, hab bestimmt wieder irgendetwas falsch gemacht, kann ja nur an mir liegen... .
Mal sehn wie lange die mich noch behalten. Ich krieg dann sowieso keinen Job mehr, weil ich für den Arbeitsmarkt zu alt bin, die Popelberufe, die ich gelernt hab sind nichts wert, ohne Studium geht sowieso nichts.
Dann bin ich wieder bei der Existenzgrundlage angelangt und fühle mich noch beschissener. Diese Gesellschaft will und braucht mich doch gar nicht, ich bin überflüssig. Eine wertlose alte Schachtel.

So, wer macht jetzt hier wen fertig. Ich kann super auf mir selbst herumtrampeln.
Diese Schmerzen füge ich mir wenigstens selbst zu, tut aber trotzdem weh. Und es braucht viel Energie, vielleicht hängt man deshalb so kaputt und müde in der Gegend herum.

Ich höre jetzt auf, bin schon wieder total im Eimer.

Gruß Höhlentier
wennfrid
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von wennfrid »

Hi Otterchen
Vergeben ist ein sehr wichtiger, aber bestimmt auch ein sehr schwieriger Schritt.
Denkt man doch zuerst, ich soll denen vergeben, müßte es nicht umgekehrt sein.
Ich sammle viele Sprüche/Weisheiten, die das Leben betreffen. Hier fällt mir folgender Spruch ein: "Nicht vergeben heißt, die eigenen Wunden offen zu lassen." Die Wunde kann nicht heilen, wenn sie immer wieder aufgekratzt wird. Durch das Vergeben bekommt man sehr viel, löst sich dadurch der Ärger, die Wut, der Groll. Anderen vergeben und vor allem auch sich selber vergeben. Eine gesunde Eigenliebe (nicht egoistisch) hilft, daß der eigene Selbstwert wächst. Außerdem ist die Vergangenheit vorbei, egal wie schön oder wie schmerzlich sie wahr. "Ich habe die Hoffnung auf eine bessere Verganheit aufgegeben". Diese Weisheit hängt in meinem Wohnzimmer und ich bin von diesem Satz überzeugt. Die Vergangenheit ist nicht mehr änderbar, die Gegenwart und Zukunft auf jeden Fall.
Viel Kraft und Energie

Fridolin
tomroerich
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von tomroerich »

Hallo Fridolin,

wahre Worte! Nicht nur ist die Vergangenheit unumstößlich vorüber. Auch wenn wir uns an sie erinnern, geschieht das immer in der Gegenwart.

Gruß von

Thomas
Betroffene für Betroffene

http://www.depressionsliga.de
imagine
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von imagine »

Hallo
nachdem ich Mutter wurde und mich so über meine Mutter stellen konnte, weil ich ja ALLES besser gemacht habe, bin ich irgendwann zu der Erkenntnis gekommen (eigentlich gezwungenermaßen) dass ich meine Tochter nicht lieben und meine Mutter hassen kann.
Die beiden sind sich durch eine Laune der Natur so ähnlich, dass ich mich mit meiner Mutter auf einer völlig anderen Weise auseinandersetzen musste.
Nun, heute weiß ich und erkenne es an, sie war eine tolle Frau und eine (für mich) miserable Mutter
Aber ich stand neulich auch vor dem Grab , in dem sowohl meine Mutter als auch deren Mutter liegen und es war so etwas wie Befreiung da, eine Linie, die sich durch mehrere Generationen gezogen hat und in mir war tiefes Verstehen und auch Verzeihen

Es geht mir gut damit

Liebe Grüße und Danke für den Thread

imagine
Schweigen ist die unerträglichste Art der Erwiderung (Chesterton)
GE
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Registriert: 29. Jan 2010, 18:46

Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von GE »

Hallo imagine,

durch die Mutterschaft habe ich erst angefangen meine Mutter zu verstehen. Mein Leben davor war sehr egoistisch, da ich im Prinzip nur auf mich selbst fixiert war.
Ich denke oft ich bin eine schlechte Mutter, aber wenn ich meinen Sohn so ansehe,
hab ich vielleicht doch nicht alles falsch gemacht.
Er ist ein Teil von mir, so wie ich ein Teil meiner Mutter bin.

Manchmal stelle ich mir die Frage, ob ich denn, wenn es möglich wäre mit irgendjemandem tauschen würde.
Ich konnte diese Frage bisher nur mit nein beantworten, egal wie schlecht es mir zum jeweiligen Zeitpunkt ging.

Gruß Höhlentier
Grenzgängerin
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von Grenzgängerin »

Neben vielen anderen Aspekten, die zu dem Thema hier schon zur Sprache kamen und auch dem entsprechen, was ich denke und erlebt habe, war bei mir noch ein wichtiger Punkt in all dem das Thema Kontrolle.

Wenn ich anderen die Schuld gebe, dann gebe ich ja auch die Kontrolle aus der Hand. D.h. der andere ist der "Täter" und ich kann nichts tun, weil seine Taten und die Gesamtsituation in seiner Hand liegen.

Wenn ich aber mir die Schuld gebe, mir einbilde, dass ich etwas anders hätte machen können und die Situation daraufhin anders gewesen wäre, dann ist das bei mir zumindest auch ein Versuch gewesen, rückwirkend die Kontrolle über die Situation zu bekommen.

Es ist ja schon zumindest für jemanden wie mich schwierig, mir einzugestehen, dass ich nichts hätte anders machen können und die Situation nicht ändern/verhindern hätte können.

Das war aber ein entscheidender Schritt. Mir einzugestehen, dass ich nicht alle Situationen beeinflussen kann. Dass ich als Kind so gehandelt habe, wie ich es konnte und nichts anderes möglich war und dass ein Erwachsener, der mir etwas "angetan" hat, derjenieg war, der hätte wissen müssen, dass er etwas falsches tut (klar gab es auch Gründe dafür in seinem Leben, dass er getan hat, was er getan hat, aber er hätte, in unserer Gesellschaft aufgewachsen, wissen müssen, dass es falsch ist, was er tut). Insofern trifft den anderen schon Schuld.

In meinem Erwachsenenleben hatte ich auch noch mal eine Situation, in der ich mich sehr hilflos gefühlt habe, als ein anderer mich und eine Freundin überfiel und mit einem Messer bedrohte. Ich habe mir lange Vorwürfe gemacht, dass wir überhaupt da langgelaufen sind, dass ich nicht auf mein schlechtes Bauchgefühl gehört habe, dass ich mich habe von dem Typen anquatschen lassen,...

Das war auch alles ein Versuch, die Kontrolle rückwirkend zurück zu bekommen. Mir etwas auszudenken, wie ich die Situation hätte ändern können.

Inzwischen weiß ich, dass solche Dinge einfach passieren können. Ich kann tun, was ich will, ich werde es nicht verhindern, wenn es passieren "soll".

Dabei aber trotzdem so eine Art Vertrauen ins Leben zu haben, dass es auch dann mich träge und mir das gibt, was ich brauche, um das zu überstehen und zu verarbeiten, das hat gedauert, dass das wachsen konnte und musste oft auf die Probe gestellt werden.

Inzwischen habe ich dieses Vertrauen und es ist mir gar nicht mehr wichtig, die Schuldfrage zu stellen.

Dinge passieren und ich muss sehen, wie ich mein Leben (weiter)lebe.
Irgendwie empfinde ich es inzwischen so, dass alles einen "Sinn" hat(das klingt jetzt in vielen Ohren vermutlich abartig z.B. in Bezug auf Gewalttaten gegen Kinder). Erfahrungen, auch sehr schlimme, machen mich zu dem Menschen, der ich heute bin. Ich hätte ein anderes Leben gehabt, wenn ich gewisse Erfahrungen nicht gemacht hätte, vieles wäre ganz anders gelaufen. Ich wäre vielleicht nicht in der Stadt, in der ich heute lebe. Ich hätte nicht die Person kennengelernt, mit der ich gerade einen Kontakt aufbaue und die ein großer Teil meiner Zukunft werden könnte. Wir könnten vermutlich gar nichts miteinander anfangen, wenn ich anders wäre.

So gibt es viele Dinge, die änders wären, wenn...

Grüße,

unknown
mystery60
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von mystery60 »

Hallo Höhlentier,

dass man mit niemandem tauschen will, zeigt doch, dass man weitgehend mit seinem Leben zufrieden ist, zumindest, mit dem was man daraus gemacht hat. Jeder Mensch hat andere Ausgangsbedingungen, arme Elter oder reiche, welche die Zeit für mich als Kind hatten oder nicht, die mich geliebt haben und mir das auch zeigen konnten oder nicht, Eltern die selbst krank oder traumatisiert (Krieg) waren oder nicht, etc. .... also jeder von seinem "Startpunkt" aus hat etwas daraus gemacht und ihr und ich, wir sind unseren Weg gegangen mit Höhen und Tiefen mit Erfolgen und Niederlagen, auch mit Fehlern und deshalb sind wir die, die wir heute sind. Das will ich auch nicht missen.

Klar kommen einem Gedanken, wie: es wäre so viel besser gewesen, wenn.... - aber da finde ich den Satz von Fridolin wirklich klasse:
>"Ich habe die Hoffnung auf eine bessere Verganheit aufgegeben".

Es war wie es war und es ist wie es ist und ja, es wird sein, wie es sein wird. Aber während ich die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufgeben muss, kann ich diese auf meine Zukunft richten. Ich habe es selbst - vielleicht auch nur ein Stück weit - in der Hand, mein Leben so zu leben, wie ich es für richtig halte und wie es mir selbst gut tut. Und wenn man nicht an Zufall und Schicksal glaubt, sondern an Vorbestimmtheit und Fügung, dann muss man sein Leben sowieso leben, so wie es vorbestimmt ist, dann war alles gut und alles für etwas gut und richtig. Nach dem Spruch: es ist nichts so schlecht, dass es nicht auch für etwas gut ist - d.h. auch aus Fehlern und Niederlagen kann man lernen und stärker werden.

Meine Krankheit hat mir geholfen, über mich nachzudenken, überhaupt die Zeit dazu zu haben und mir nehmen zu können, mal zu reflektieren, wo ich stehe und wo mein bisheriger Weg hinweist und die Frage stellen, ob es mein Weg überhaupt (noch) ist.
Vielleicht muss ich nicht unbedingt vergessen oder verzeihen oder vergeben, sondern es einfach annehmen. Akzeptieren, dass die Dinge so waren, wie sie waren und dass sie nicht besser - aber eben auch nicht schlechter - waren. So wie heute: gut, ich bin krank, aber es gibt noch 1000 und mehr Krankheiten, die ich nicht habe und ja gibt es Probleme in meiner jetzigen Lage, aber 100.000 Probleme, die ich nicht habe. Und ich habe die Möglichkeit mein weiteres Leben bewußt und reflektiert anzugehen und meine Entscheidungen zu treffen, auch solche, ggf. eine Aussöhnung herbeizuführen oder zu versuchen oder jemanden zu vergeben und zu verzeihen oder es zu lassen. Meine Entscheidung - ich bin Herr meines Lebens, ich steuere das Boot - die (Vor-)Bedingungen sind der Fluss und der Wind und das Wetter und es ist nicht immer einfach seinen Kurs zu finden und ihn beizubehalten, aber ich habe die Chance, auch in "rauhen Gewässern" und kein Sturm dauert ewig....

Liebe Grüße
TG
tomroerich
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von tomroerich »

Aber während ich die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufgeben muss, kann ich diese auf meine Zukunft richten.

Auch die Zukunft existiert nicht. Wenn sie existiert, dann im gegenwärtigen Moment und dann ist sie keine Zukunft mehr. Wenn ich eine gute Zukunft will, gestalte ich sie in der Gegenwart, indem ich alles so annehme, wie es im Moment ist, ohne die Bedingungen der Vergangenheit darauf anzuwenden.
Betroffene für Betroffene

http://www.depressionsliga.de
GE
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von GE »

Hallo Thomas,

"Wenn ich eine gute Zukunft will, gestalte ich sie in der Gegenwart, indem ich alles so annehme, wie es im Moment ist,..."

Man sollte annehmen, dass wir in der Gegenwart leben, aber oft hängen wir in Gedanken irgendwo in der Zukunft oder der Vergangenheit. Was nimmt man dann von der Gegenwart noch wahr?
Wenn ich mit mir und meinem Leben unzufrieden bin bezieht sich das auf meine gegenwärtige Verfassung. Ich nehme momentan wahr, dass ich mich nicht wohlfühle. Also kann ich diesen Zustand in der Form auch nicht akzeptieren, wenn ich ihn annehmen würde, wäre das für mich gleich zu setzen mit Resignation.
Um mich besser zu fühlen muss ich etwas verändern. Dazu kann es nützlich sein, Erfahrungen aus der Vergangenheit als Hilfsmittel zu verwenden.

Klar die Vergangenheit ist rum ums Eck, aber sie hat mich geprägt und egal wie übel es teilweise war, ich möchte sie nicht missen, ich hänge ihr aber auch nicht hinterher. Ohne sie wäre ich nicht wer ich bin. Ich kann mich zwar nicht besonders gut leiden, aber das macht nichts, na ja jedenfalls nicht immer. Es gibt Leute die ich noch viel weniger leiden kann.


Hallo TG,

da gibt es diesen Spruch "Wer nicht hören will muss fühlen".
Wenn man sich selbst lange genug ignoriert wird man krank. Wenn man krank wird, ist man gezwungen in sich selbst hinein zu hören.
Ich wollte mir selbst lange nicht zuhören, obwohl ich genau wusste, dass ich früher oder später gegen eine Wand knallen werde.
Die Wand hab ich ziemlich deutlich gespürt. Ich bin in vollem Bewusstsein dagegen gerannt. Ich sehe für mich den Zeitpunkt gekommen etwas verändern zu müssen, weil ich so nicht mehr weitermachen will. Es ist nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich an so einem Punkt stehe und es wird mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal sein.
Mit Perspektiven klappt es im Moment noch nicht so recht, aber mal sehn... .

"Tiefgrund", der Name passt wirklich gut.

Gruß Höhlentier
imagine
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Re: nicht vergeben/verzeihen/vergessen können... und andere Gedanken

Beitrag von imagine »

Hallo Thomas
im Prinzip gebe ich dir Recht, aber was ist mit den Augenblicken, in denen du es nicht ertragen kannst, überhaupt am Leben zu sein, was machst DU dann?
Das ist für mich eine wichtige Frage, weil es diese Momente in meinem leben ziemlich oft gibt und ich ihnen entfliehen MUSS, denn ich kann sie nicht ändern und auch nicht aushalten.
Ich habe es wirklich und wahrhaftig schon mit Annehmen versucht.
In winzigen Teilaspekten ist mir das auch gelungen, aber eben nicht in allen.
Und es kommt bei mir immer plötzlich, oft ausgelöst durch einen Streit, der mich zurück katapultiert in die Kindheit und wo ich mich auch genauso hilflos und ohnmächtig fühle.
Dann ist auch die Annahme nicht mehr möglich, weil dieser elementare Schmerz so entsetzlich ist, dass nur Flucht hilft

Liebe Grüße imagine
Schweigen ist die unerträglichste Art der Erwiderung (Chesterton)
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