sollte man alles wissen wollen

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horcars
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Registriert: 8. Feb 2009, 16:42

sollte man alles wissen wollen

Beitrag von horcars »

ich weiss nicht, ob ich mit meinem Thema hier im richtigen Forum bin??

Mir ist übel und eine Frage quält mich.

Heute bei meiner Therapeutin wurde das erste Mal deutlicher, dass der sexuelle Missbrauch meines Vaters immer konkretere Formen annimmt. Diesen Teil meiner Lebensgeschichte habe ich immer wieder versucht wegzudrücken. Heute wurde das erstmalig aufsteigende Ekelgefühl durch die Therapeutin abgebrochen. Sie ließ mich so lange Rechenaufgaben lösen, bis ich mich wieder entspannen konnte.
Jetzt frage ich mich, was ich weiter tun soll. Was wird es mir bringen, wenn ich noch einmal in die damalige Gefühlsebene des 3 bis 6 Jährigen eintauche und mir damit den letzten Rest von Achtung vor meinem Vater nehme. Auch frage ich mich, was es mir bringen wird, wenn ich dann meine vielfältigen Verhaltensstörungen verstehe und mir dann sagen kann, ach so, deshalb warst du oder bis du so gestört.
Ich bin 64 Jahre alt und habe gelernt mit meinen vielen Störungen umzugehen. Ich lerne mit meinen depressiven Episoden umzugehen, besuche Therapeutin und Psychiater und pflege so gut ich kann meine Familie, ohne die ich sicher nicht mehr leben würde.
Was also kann mir die Wahrheit bringen? Trauer und Wut, Ekel und Verachtung, Verständnis zu sein, wie ich bin?
Wie sind Eure Erfahrungen.
Im Moment gehts mir nicht gut, ich würde gerne weinen oder mich übergeben und alles aus mir rauskotzen, was sich über die vielen Jahre bei mir eingenistet hat. Ich denke aber, morgen, wenn ich mich wieder beschäftige wird die Ablenkung dafür sorgen, dass es wieder besser wird.
Emotio
Das einzig Unveränderliche in unserem Leben ist die Veränderung, sagt schon Laotse
Lebenskünstler
Beiträge: 39
Registriert: 4. Feb 2009, 21:09

Re: sollte man alles wissen wollen

Beitrag von Lebenskünstler »

Emotio,

ich wollte dich nur wissen lassen, dass du auch hier im Forum eine tragende Rolle spielst.
Du kannst in deinen Beiträgen viel geben und schon allein deswegen solltest du auf dich und deine Gefühle Rücksicht nehmen.
Was für Erwartungen hast du denn, wenn du alles wissen würdest ???
Würde etwas von dir abfallen ??? Würde es dir besser gehen ??? Könntest du Erkenntnisse daraus ziehen ???
KOPF HOCH AUCH WENN DER HALS DRECKIG IST
horcars
Beiträge: 140
Registriert: 8. Feb 2009, 16:42

Re: sollte man alles wissen wollen

Beitrag von horcars »

Hallo Pentaxmen,
danke für Deine einleitenden Worte.
Hier meine Antworten auf Deine Fragen:
Es gäbe mir mehr Sicherheit im Umgang mit mir selbst.
Meine ewige Grundsehnsucht nach der Liebe meines Vaters würde total zerstört. Vermutlich würde ich ihn hassen und dann aus meinen Gedanken streichen wollen. Mit meiner Mutter, die ich in den letzten Stunden ihres Todes begleitet habe, habe ich abgeschlossen. War mein Vater eher der, der mich körperlich und vermutlich sexuell misshandelte, war sie diejenige, die mich bis in die tiefsten Fasern meiner Seele manipulierte und mich zu einem persönlichen unwerten Subjekt umwandelte. Besser würde es mir vermutlich nicht gehen ( außer vielleicht, dass die Depressionen nachließen) und die Erkenntnisse, die ich aus dem Wissen ziehen könnte, wären vermutlich, dass ich bis heute trotz all der Kränkungen, Quälereien und Missbräuche ein von aussen betrachtet erstaunlich erfolgreiches Leben geführt habe.
Emotio

P.S. Es wäre vielleicht für mich einfacher, wenn ich Menschen treffen würde, denen ähnliches widerfahren ist. So komme ich mir manchmal wie ein kranker Spinner vor, der sich in seinem gestörten Hirn etwas nur ausgedacht hat, was bei näherer Betrachtung überhaupt nicht sein kann.
Aber, das was ich meine zu erinnern, tut halt ab und zu sehr weh und ist dann kaum noch auszuhalten.
Das einzig Unveränderliche in unserem Leben ist die Veränderung, sagt schon Laotse
BeAk

Re: sollte man alles wissen wollen

Beitrag von BeAk »

Lieber Emotio,

ich habe meinen Großvater geliebt, über seinen Tod hinaus.
Und für das was er mir antat, fühlte ich mich schuldig. Ich war damals 6-12 Jahre alt.

Durch die Verarbeitung wurde mir die Schuld, welche tonnenschwer seit Jahrzehnten auf meinen Schultern lastete, genommen.
Das war eine sehr große Erleichterung für mich.

Und ich habe dadurch gelernt einen realistischen/unverschleierten Blick auf meinen Großvater zu werfen und meine Liebe für ihn löste sich in Luft auf.

Ich weis nicht ob mein Text Dir hilft.
Aber wenn Du die Traumabearbeitung fortsetzen willst, dann vorsichtig. Spüre in Dich hinein, wieviel Erinnerung Du zu zulassen willst.

Kennst Du die Tresorübung, um belastendes erstmal wegzusperren?
Bellasus
Beiträge: 1628
Registriert: 10. Jun 2004, 21:41

Re: sollte man alles wissen wollen

Beitrag von Bellasus »

Lieber Emotio,

so kurz du erst im Forum bist und so wenig ich gerade hier bin - ich empfinde deine Beiträge auch als große Bereicherung fürs Forum!

Das mit dem Wissen ist so eine Sache. Ich glaube, es gibt Zeiten der Instabilität, wo mehr Wissen nicht auszuhalten wäre, und die Idee mit dem rechnen, bis man sich wieder gefangen hat, ist schon klasse. Bearbeiten des Traumas, wenn man nicht in der Lage wäre, nach einer solchen Therastunde in sein Leben zurückzukehren, lehnt meine Thera kategorisch ab - entweder solange in den Tresor packen, bis mehr innerer Halt da ist, oder stationär bearbeiten - oder nie, wenn man so stabil wird, dass eine Aufarbeitung vielleicht gar nicht mehr nötig ist. Letzteres kann ich mir aber für mich kaum vorstellen, eher rückt Version 2 näher.

Wissen kann aber auch eine unendliche ENTlastung sein, und dein P.S. von gestern klingt, als ob es da ein gefühlsmäßiges Wissen um das Geschehene gibt, aber Zweifel, ob es wirklich Realität war.

In dieser Situation war ich bis letzten September auch, ich wußte sicher, da war was, konnte aber nicht einordnen, ob es in meiner Phantasie überdimensional wurde oder tatsächlich gravierend war. Und dann tauchten schriftliche Beweise auf (Aufzeichnungen meines Vaters), die meine Gefühle und Erinnerungen ganz klar bestätigten, und so furchtbar es war, war es doch auch eine kaum in Worte zu fassende Erleichterung - ich war eben keine kranke Spinnerin, um deine Worte zu gebrauchen.

Mit dem furchtbarsten Wissen zu leben, kann leichter sein, als mit einer vagen Ungewißheit, die einen nicht zur Ruhe kommen läßt. Schreckliches kann man versuchen zu verarbeiten, aber wenn man gar nicht weiß WAS GENAU man verarbeiten soll? Ich denke dann ist es viel schwerer aus dem Sumpf herauszukommen.
Den richtigen Zeitpunkt zu finden ist dann die große Kunst.

@Bea: das Wissen war bei dir aber vorhanden, und es ging dann darum, es einzuordnen, die Verantwortung dorthin zurückzugeben, wo sie hingehörte, nämlich zu deinem Großvater, so wie ich dich verstehe? Und dass es eine große Befreiung für dich ist, diese Schuld nicht mehr bei dir zu fühlen, liest man heraus!

Ich glaube, bei Emotio ist erst mal dran, zuzulassen, das da wirklich was war, und sein heutiges Befinden seine volle Berechtigung hat und eben nicht Zeichen seiner Überempfindlichkeit o.ä. ist.

Emotio, deine Thera ist anscheinend sehr verantwortungsbewußt und achtsam und hilft dir bestimmt gut beim Umgang mit dem Schmerz.

Alles gute für dich!
Annette




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- Betroffene für Betroffene -
horcars
Beiträge: 140
Registriert: 8. Feb 2009, 16:42

Re: sollte man alles wissen wollen

Beitrag von horcars »

Hallo Ihr Lieben,
Eure Antworten haben mir gut getan und mir ein wenig von der Angst genommen, die ich vor der Reaktion auf meine Frage hatte.
Wenn ich an das zurück denke, was in den Jahren an Bildern immer wieder vor mein geistiges Auge trat, werde ich immer sicherer in der Annahme, dass mein Vater sich hat zu etwas hinreissen lassen, was ich mir einfach nicht vorstellen will. Ich weiss, dass er mich, der ich charakterlich eher nach der Familie meiner Mutter komme, immer abgelehnt hat. Dass er mich deshalb schlug, mich verbal kränkte und beleidigte, wo er nur konnte, mir seine ganze Ablehnung immer wieder klar vor Augen führte, ok, damit habe ich gelernt zu leben. Dass er aber meine ungestillte Sehnsucht gerade nach seiner Anerkennung und Liebe so schamlos soll ausgenützt haben, ist für mich einfach unvorstellbar.
Montag bin ich wieder bei meiner Therapeutin, auf der einen Seite will ich den Ekel überwinden, um weiter schauen zu können, auf der anderen Seite fürchte ich mich vor dem Dammbruch.
Meine Frau, die als 11jährige von ihrem Vater missbraucht wurde und später von ihrer Mutter gezwungen wurde, zu schweigen, hatte es auch einmal versucht, das Thema emotional zu bearbeiten und musste abbrechen.14 Tage hatte sie danach fürchterliche Schmerzen am ganzen Leib. Sie hat für sich einen Tresor gefunden, telefoniert mit ihm ( dem vater) einmal die Woche und schafft sich ansonsten viele Aktivitäten, die jeglichen Stillstand vermeiden und ihr somit helfen, vor ihren Gefühlen und Gedanken zu flüchten.
Wenn ich sehe, wie wir nach 30 Jahren Ehe mit uns und unseren Problemen umgehen, denke ich manchmal, sie schafft es besser als ich.
Aber ich denke auch, dass die Auseinandersetzung mit Euch im Forum mir immer wieder hilft, die Zwischenräume zwischen den depressiven Episoden zu vergößern... und das ist gut so.
Euch wünsche ich alles was Euch gut tut
Emotio
Das einzig Unveränderliche in unserem Leben ist die Veränderung, sagt schon Laotse
kartoffelsalat
Beiträge: 464
Registriert: 9. Jan 2009, 04:53

Re: sollte man alles wissen wollen

Beitrag von kartoffelsalat »

Hallo Emotio

du schreibst:
"Im Moment gehts mir nicht gut, ich würde gerne weinen oder mich übergeben und alles aus mir rauskotzen, was sich über die vielen Jahre bei mir eingenistet hat. Ich denke aber, morgen, wenn ich mich wieder beschäftige wird die Ablenkung dafür sorgen, dass es wieder besser wird."

Genau das habe ich vor zwei Wochen gemacht. Bei mir ist durch die Therapie vor zwei Wochen ein altes Gefühl hochgekommen und ich bin nacH Hause gefahren und habe gekotzt. Den ganzen Tag lang. Nichts blieb. Ich habe es nicht "absichtlich" gemacht. Es passierte einfach. Aber danach hatte ich nicht mehr das Gefühl mich so stark ablenken zu müssen. Es war sehr anstrengend, aber ich fühlte mich anschließend irgendwie frei. Befreit von diesem unterschwelligen Druck, des einen kleinen Kämmerchens, dessen Tür cih geöffnet hatte. (Da gibt es noch ein paar Türen mehr.)

Nun will ich das Kotzen nicht zwingend empfehlen, aber ich glaube, wie du:

"Besser würde es mir vermutlich nicht gehen ( außer vielleicht, dass die Depressionen nachließen) und die Erkenntnisse, die ich aus dem Wissen ziehen könnte, wären vermutlich, dass ich bis heute trotz all der Kränkungen, Quälereien und Missbräuche ein von aussen betrachtet erstaunlich erfolgreiches Leben geführt habe."

dass es sein könnte, dass die Depressionen nachlassen. Weil wie Bea schreibt, wenn aus der Ahnung ein Wissen wird, dann auch irgendwann die Schuldfrage geklärt wird (tschuldige Bea wenn ich hier ein wenig paraphrasiere.)

Emotio, wenn du das Gefühl hast, eine gute und verantwortungsbewußte Therapeutin zu haben und glaubst, achtsam mit deiner Kraft umgehen zu können, dann würde ich an deiner Stelle glaube ich in Kauf nehmen, dass vielleicht ein anderer (der Vater) an Achtung verliert. Und vielleicht kann er sie an anderer, geeigneterer Stelle ja trotzdem wieder bekommen.

Liebe mitfühlende Grüße Kartoffelsalat
kartoffelsalat
Beiträge: 464
Registriert: 9. Jan 2009, 04:53

Re: sollte man alles wissen wollen

Beitrag von kartoffelsalat »

Emotio,

Das mit den mitfühlenden Grüßen hört sich irgendwie blöd an, weil ich da natürlich nicht mitfühlen kann. Will sagen, ich hoffe, dass du für dich eine gute Entscheidung treffen kannst.

Liebe Grüße Kartoffelsalat
horcars
Beiträge: 140
Registriert: 8. Feb 2009, 16:42

Re: sollte man alles wissen wollen

Beitrag von horcars »

Hallo Kartoffelsalat,
allein schon, dass Du auf meine niedergeschriebenen Gedanken geantwortet hast, zewigt mir mich viel Mitgefühl und tut mir mehr als gut.
Inzwischen habe ich in einem anderen Forum gelesen, welche Lebenshaltungen Männer, die Opfer von sexuellem Missbrauch waren, entwickelt haben und ich war zutiefst erschrocken, als ich feststellte, dass ich alles, was geschrieben stand, zu 100 % übernehmen kann.
-Beziehungen selten mit emotionaler Tiefe
und Vertrauen
-Schützen sich ständig vor eventuellen
negativen Folgen
-Klammern und machen sich abhängig und leben
dabei mit dem Gefühl, von anderen
abgewiesen zu werden
-Fühlen, dass sie am Missbrauch Schuld haben
neigen dazu, auhc nicht-sexuelle
Beziehungen zu sexualisieren
entwicklen Strategien um Beziehungen zu
kontrollieren und zu beherrschen, um sich
sicher fühlen zu können

Jetzt ist mir klar, dass ich es akzeptieren muss und meine Frage, "sollte man alles wissen wollen", meint jetzt, werde ich mich und mein Verhalten, meine Ängste, meine Handlungen aus der Vergangenheit besser verstehen lernen. Und vor allem, werde ich mich dafür, dass ich mir immer wieder selbst die Schuld gegeben habe, mich niedergemacht habe, mich verachtet und gehasst habe, bei mir selbst entschuldigen können??
Montag ist der nächste Therapietermin. Meine Therapeutin ist wirklich gut und ich bin sicher, sie wird nur zulassen, was für mich gut ist, drücke mir also die Daumen für den nächsten Schritt.
Emotio
Das einzig Unveränderliche in unserem Leben ist die Veränderung, sagt schon Laotse
kartoffelsalat
Beiträge: 464
Registriert: 9. Jan 2009, 04:53

Re: sollte man alles wissen wollen

Beitrag von kartoffelsalat »

Hallo Emotio

wow, da bist du ja schon einen mächtigen Schritt weiter gekommen. Ich werde Montag an dich denken und wünsche dir, dass du das was du mir geschrieben hast, deiner Therapeutin auch so gut mitteilen kannst.

Ich habe im Moment auch einen Therapeuten, bei dem ich glaube, dass ich diese mutigen Schritte gehen kann und zum ersten Mal auch will. Und das ist schon die erste Veränderung. Das ICH etwas will. Das läßt einen neuen Wind in die Depression. Es gibt diese Momente in denen ich ein und ausatme. Das Ausatmen habe ich öft vernachlässigt. Das loslassen von innerem Alten. Weiß nicht, ob das verständlich ist.

Also nochmals, du bist mutig sei auch achtsam und ich glaube, du wirst die Veränderungen in deinem Verhalten spüren.

Liebe Grüße Kartoffelsalat,
die sich darüber freut, dass du mit Ihrer mail was anfangen konntest.

(In dem was du da schreibst, erkenne ich mich auch.)
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