Lyrik gegen Depression

Christine25
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Lyrik gegen Depression

Beitrag von Christine25 »

Hallo Ihr Lieben,

ich habe gelesen, dass Gedichte gegen Depression helfen können. Es gab mal eine Studie, die ergab, dass es den meisten Depressiven half, entweder Gedichte selbst zu schreiben oder zu lesen. Da ich selbst Germanistik studiere und an Literatur, insbesondere Lyrik, interessiert bin, hoffe ich, dass sich hier vielleicht auch noch andere finden, die diese Vorliebe mit mir teilen.

Ich würde gerne selbst Gedichte schreiben, in denen ich meine Gefühle verarbeite, gerade ist mein erster "Vierzeiler" entstanden nachdem ich Wonkis Thread zur dissoziativen Störung gelesen habe ...


umhüllt von eis die haut erfroren
der blick ins leere selbst sich schaut
das Sein hat sich im nichts verloren
erstickt in trüber traurigkeit.



Also Wonki, wenn du das liest, vielen Dank für deine Inspiration - vielleicht findest du dich ja in meinem Gedicht wieder ...


Zudem möchte ich auch mein Lieblingsgedicht nicht vorenthalten, dass ich seit meiner Erkrankung mit ganz anderen Augen sehe.


Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke


So, vielleicht hat ja jemand Lust mit mir zu interpretieren, diskutieren oder zu dichten.

Chrissy
Nicht in der Erkenntnis liegt das Glück, sondern im Erwerben der Erkenntnis. (Edgar Allan Poe)
gfb
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von gfb »

Hai Chrissy,

>Da ich selbst Germanistik studiere und an Literatur, insbesondere Lyrik, interessiert bin, hoffe ich, dass sich hier vielleicht auch noch andere finden, die diese Vorliebe mit mir teilen.

Oh jeeeee..

Ich studiere zwar nicht Germanistik (ich hab das mal vor Jahrzehnten ein wenig studiert), aber ich habe trotzdem einen gewissen Drang dazu (nein: keine Eigenproduktion!)...

Gottfried Benns "Marburger Rede" von 1954 oder Hugo Friedrichs "Struktur der modernen Lyrik", die "Konkrete Poesie",die Dichter der NFS und derlei mehr sind mir ebenfalls bekannt...

Zu meinen Hausgöttern zählen lauter morbid-depressiv-luzide Gestalten wie der schon erwähnte Benn und Trakl und Rilke und Heym und wie sie alle heissen...

und wenn wir schon beim echt krass Gedichte vorstellen sind ( ):

===========Benn on=====================
O daß wir unsere Ururahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.

Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel,
vom Wind Geformtes und nach unten schwer.
Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel
wäre zu weit und litte schon zu sehr.
==========Benn off=================

Bei Interesse gerne mehr, ok?

(Aber heute nicht mehr!)

Grüßle

Friedrich
------------

"Warum sind wir so kalt?

Warum? Das tut doch weh!"



Erika Mann, "Die Pfeffermühle"
Cookie
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von Cookie »

Rosa Knospen
Im weißen Schnee
Erloschen, erstarrt
Niemals gelebt

Im Mantel mit Mütze und Schal
Die Tränen auf den Wangen gefroren
Sitzt du auf der Bank
Deines Lebens

Steh auf, zieh Stiefel an
Und laufe
Der Sonne entgegen
Hab Mut

Hast nichts zu verlieren
Außer der Bank
Die im Rückspiegel kleiner wird
Und einschneit

Najaaa, ok, vielleicht nicht die Super- Lyrik, aber immerhin von mir!
wonki80
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von wonki80 »

hallo christine,
schön, dass ich dich inspirieren konnte.*g*
schöner vierzeiler!
übrigens bin ich der totale rilke-fan und "der panther" ist auch eins meiner lieblingsgedichte.
wie findest du "das karussell"?
nun denn, vielleicht werd ich ja auch nochmal kreativ.
ansonsten guck ich mal in meinen büchern.gute idee, dieser thread!
wonki80
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von wonki80 »

Sagst Du

Es geht nicht
sagst du
mit bloßen Händen
kann man nicht
das Schicksal der Menschen ändern.
Ich sage
die Menschheit ist
ein grenzenloses
weites Herz
sie absorbiert
Tod,Generationen und
Jahrhunderte,
verwindet Geschosse
und Stiche
und Tränengas,
erträgt Erniedrigung
und Undank
Ich sage dir
das Herz der Menschheit
ist nicht
und wird nicht
gebrochen
und so wollen wir aufragen
wie Leuchttürme
mit Millionen anderen
mit den Verwirrten
und den Vergessenen
und denen starken Herzens
und strahlen.
(Jewel)
wonki80
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von wonki80 »

Du wirst kleiner, wenn du weinst

Du wirst immer nur noch kleiner, wenn Du weinst.
Irgendwann hat Dich sogar Dein Schatten satt.
Wenn Du's nicht allmählich besser mit Dir meinst,
findest Du bald nicht mal mehr im Spiegel statt.

Du wirst immer nur noch kleiner, wenn Du weinst,
bis dann gar nichts mehr zum Lieben übrig bleibt.
Bis man trostlos zwischen bitterkalten Fingern
letztes Mitleid wie ein welkes Blatt zerreibt.

Ich hab nie gesagt, Du mußt, um mich zu mögen,
mich ganz verstehen.
Ich hab nie gesagt, ich mag Dich gerne leiden
sehen.

Du wirst kleiner, wenn Du weinst.
Plötzlich hast Du nur noch Unrecht,
auf der Leinwand steht nicht "Ende", sondern "Schluß".
Du wirst kleiner, wenn Du weinst,
Ich will größer von dir denken,
bitte zwing mich nicht zu einem Gnadenschuß.

Du wirst immer nur noch kleiner, wenn Du weinst.
Das hat unsre gute Sache nicht verdient.
Ich kann nichts erklären, doch ich möchte reden.
Warum hast Du Deinen Korridor vermint?

Ich hab nie gesagt, Du mußt, um mich zu mögen,
mich ganz verstehen.
Ich hab nie gesagt, ich mag Dich gerne leiden
sehen.

Du wirst kleiner, wenn Du weinst.
(HRK)
wonki80
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von wonki80 »

Gute Reise

Keiner weiß was vor dir liegt
wie schwer die Welt mal auf dir wiegt
ob die Sterne günstig stehn
und Wünsche in Erfüllung gehn

Die Sonne schlägt die Augen auf
ein langer Tag nimmt seinen Lauf
vielleicht wirst du ja hundert Jahr‘
und sagst am Ende: wunderbar

Vielleicht fällt dir die Lösung ein
vielleicht wirst du die Rettung sein
gute Reise

Wir helfen dir so gut wir können
wir brauchen dich dein Licht soll brennen
jetzt bist du da und das ist gut
wir zähln auf dich und deinen Mut

Erklär uns wie das Leben geht
was nirgendwo geschrieben steht
du bist so klein du bist so weich
du bist so warm du bist so reich

Vielleicht fällt dir die Lösung ein
vielleicht wirst du die Rettung sein
gute Reise

Wie fest du stehst bei Gegenwind
noch bist du nur ein kleines Kind
es ist nicht leicht ein Mensch zu sein
doch jeder Berg war einmal klein
gute Reise gute Reise

Vielleicht fällt dir die Lösung ein
vielleicht wirst du die Rettung sein
gute Reise (HRK)
wonki80
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von wonki80 »

so,das war es jetzt erstmal von meiner seite...
ich hoffe euch haben meine beiträge gefreut,nachdenklich gemacht, berührt...
die texte von HRK (heinz rudolf kunze) sind zwar liedertexte aber ich find sie so toll!
er ist einer meiner lieblingsmusiker und hat mir schon oft trost gespendet.
y.
Christine25
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von Christine25 »

Hallo!

Schön, dass schon so viele geantwortet haben - hat mir meinen (nicht so schönen) Morgen unheimlich versüßt!

Lieber Friedrich,

naja, dass ich Germanistik studiere hat in meinem Leben wahrscheinlich den kleinsten Anteil zu meiner Vorliebe beigetragen. Also keine Sorge!
Ja, komischerweise waren die Expressionisten mir schon immer die Liebsten - lange bevor ich mich mit "morbid-depressiv-luziden Gestalten" hätte identifizieren wollen
Bisher kenne ich von deinen "Hausgöttern" nur die bekanntesten Werke, wobei ich mir vorstellen könnte, dass gerade die unbekannteren (wie das, was du vorgestellt hast) interessant wären. Vielleicht möchtest du ja nochmal welche hier zum Besten geben?
Ach so, vielleicht kannst du mir auch mit der Interpretation des Gedichtes weiterhelfen ... versteh es einfach nicht so ganz *schäm* ... und das trotz Germanistikstudium


Liebe Luna,

dein Gedicht ist dein Gedicht - du hast damit einen deiner Gedanken versucht in Worte einzubetten - auch das ist Lyrik. Ich denke, genau das ist das schöne am Gedichte schreiben - ein Ventil für eigene Gedanken. Interessant finde ich, dass besonders die Rose immer wieder ein Symbol für alles mögliche im Leben sein kann. Dass du sie als Symbol für soetwas wie Lebenstraum, Lebensziel, Glück genommen hast finde ich sehr schön. Habe auch (vor Jahren) mal ein Gedicht zu Rosen geschrieben - allerdings ganz langweilig als Symbol für Liebe

Strahlend rot und wunderschön sehe ich unzählige Rosen
So einmalig das Gefühl des ersten Erblickens
So groß der Drang eine zu pflücken
Sie der Umwelt zu entreißen
Sie nur für mich zu haben

Ihre Schönheit raubt mir die Vernunft

Zaghaft, aber mit bewusstem Ziel
Nähere ich mich meinem größten Wunsch
Will sie fassen, behüten
Sodass sie niemals verblüht

Doch betäubt von ihrem Bann
Fühle ich keinen Schmerz
Nicht, dass ihre Dornen mich durchbohren

Zurück bleiben unzählige Narben


Liebe Wonki,

es freut mich, dass dir mein Vierzeiler gefällt.
Ja, das Karussell ist ein wunderbares Gedicht. Rilkes Gedichte wirken auf mich einfach immer wieder genial. Ich kann sie immer wieder lesen und bin jedes Mal aufs neue fasziniert von ihrer "Schönheit". Alles passt zusammen, die Symbolik, das Metrum, die Form ... und am Ende die Erleuchtung. Man könnte es nicht schöner ausdrücken!

Alles Liebe,

Chrissy
Nicht in der Erkenntnis liegt das Glück, sondern im Erwerben der Erkenntnis. (Edgar Allan Poe)
Christine25
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von Christine25 »

Ach so, hier übrigens auch noch das Gedicht, für alle die wissen wollen, worüber ich sprach.

Das Karussell

Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.

Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
und hält sich mit der kleinen heißen Hand
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgend wohin, herüber -

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil -.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel...

Rainer Maria Rilke
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abstrakte
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von abstrakte »

mein Beitrag:

das ganze


im taumel war ein teil, ein teil in tränen,
in manchen stunden war ein schein und mehr,
in diesen jahren war das herz, in jenen
waren die stürme – wessen stürme – wer?

niemals im glücke, selten mit begleiter,
meistens verschleiert, da es tief geschah,
und alle ströme liefen wachsend weiter
und alles aussen war nur innen nah.

der sah dich hart, der andre sah dich milder,
der wie es ordnet, der wie es zerstört,
doch was sie sahn, das waren halbe bilder,
da dir das ganze nur allein gehört.

im anfang war es heller, was du wolltest,
und zielte vor und war dem glauben nah,
doch als du dann erblicktest, was du solltest,
was auf das ganze steinern niedersah,

da war es kaum ein glanz und kaum ein feuer,
in dem dein blick, der letzte sich verfing:
ein nacktes haupt, in blut, ein ungeheuer,
an dessen wimper deine träne hing.


g. benn
Regenwolke
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von Regenwolke »

In der Welt

Ich lasse mein Gesicht auf Sterne fallen,
Die wie getroffen auseinander hinken.
Die Wälder wandern mondwärts, schwarze Quallen,
Ins Blaumeer, daraus meine Blicke winken.

Mein Ich ist fort. Es macht die Sternenreise.
Das ist nicht Ich, wovon die Kleider scheinen.
Die Tage sterben weg, die weißen Greise.
Ichlose Nerven sind voll Furcht und weinen.

Paul Boldt, 1914
abstrakte
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von abstrakte »

man müsste das system
seiner widersprüche finden,
indem man ruhig wird.
wenn man die gitterstäbe sähe,
hätte man den himmel
dazwischen
gewonnen.

elias canetti
gfb
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von gfb »

Hai alias_Chrissy,

>Ja, komischerweise waren die Expressionisten mir schon immer die Liebsten

Ich glaube nicht, dass gewisse Vorlieben bei Depris Zufall sind.

>Vielleicht möchtest du ja nochmal welche hier zum Besten geben?

Guckst du weiter unten, ok?

>mit der Interpretation des Gedichtes weiterhelfen ...

Oh jeeee...

Die Zeiten des "Was, liebe Kinder will uns der Dichter damit sagen?" sind bei mir schon EINIGE Zeit vorbei..

Anyway:

etwas höher entwickelte Lebenwesen (also auch der Mensch) verfügen im Allgemeinen über ein ZNS (auch Gehirn genannt.)
Die absolut überlebenswichtigen Funktionen werdne vom Stammhirn gesteuert, dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil.
Dort sind z.B.. die Reflexe und die unbewussten Geschichten angesiedelt (Atmen, Herzschlag und derlei Zeugs mehr).
Im laufe der Evolution kamen dann immer mehr Bewusstseinsgeschichten dazu, die das gehirn aufblähen, zu seiner heutigen Größe anwachsen ließen. Das, was z.B. den Mensch zum Menschen macht, der ganze Zivilisationsschlonz wie "Wo komm ich her, wo geh ich hin?", "Wozu das alles?", "Lohnt es sich überhaupt?" und derlei Lieblingsfragen der Depris ist in der äußeren Hinrregion (Großhirnrinde) angesiedelt.

Und jetzt kommt Gottfried Benn mit seinem Zivilisationsekel und seinem naturwissenschaftlich geprägten Hintergrund (er war Mediziner), mit seinem Leiden an der modernen Welt und stellt sich als paradiesisischen Urzustand vor, über diesen ganzen Kram NICHT zu verfügen und trotzdem am Leben zu sein:

Das "Klümpchen Schleim in einem warmen Moor" (Jahrmilliarden her; daraus entstand dann das Leben, so wie wir es heute kennen) verfügt NICHT über diesen ganzen Bewusstseinsapparat, der das Leben mitunter doch recht unerträglich macht.

Das "Klümpchen Schleim" lebt aber trotzdem, wenn auch bewusstlos.

Demgegenüber sind "Libellen" und "Möwen" schon recht komplexe Organismen, wenn auch (vermutlich) ohne Bewusstsein.

Die spannende Frage ist nun:
wer ist "glücklicher"?

Der Mensch mit seinem Grübelapparat - oder das "Klümpchen Schleim im warmen Moor"?

Ein Säbelzahntiger, der nach der Devise "Wenn sich was bewegt, hau drauf und friss es!" lebt - oder der Mensch, der seine Fressgelage ("Wurst vom Bock an Klecks aus Senf") durch das Studium der Beipackzettel von Herzkreislaufmedikamenten zu kompensieren sucht?

Na ja, mal eben so ein paar Gedanken zu Benns Gedicht (falls mich ein Naturwissenschaftler korrigieren möchte: nur zu)...


Und jetzt gibbet was Neues:


Mutter

Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal bin ich blind und spüre
Blut im Munde


Das "richtige" Gschmäckle entsteht dann, wenn man ein wenig in Benns Biografie bewandert ist:

der grad frischgebackene Arzt wollte seiner Mutter Schmerzmittel verabreichen (sie litt an Brustkrebs im finalen Stadium), aber sein Papa (evangelischer Pfarrer) verbot ihm das, weil: Leiden ist ja in Gottes Plan enthalten udn da darf der Mensch nicht eingreifen!
Ergebnis: die Mutter ist an ihrem Brustkrebs elendiglich krepiert...


Grüßle

Friedrich


P.S.: bei Gelegenheit gibt's dann auch was vom Trakl Schorsch (auch so ein ganz schwer depressives Menschlein mit wunder-wunder-WUNDERschönen Gedichten, an denen ich mich nachgerade besoffen lesen kann.
Allerdings tun die nicht immer gut...)
------------

"Warum sind wir so kalt?

Warum? Das tut doch weh!"



Erika Mann, "Die Pfeffermühle"
GreenMandala
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von GreenMandala »

An dieser Stelle möchte ich mein Lieblingsgedicht zum Besten geben, auch wenn es ein wenig aus dem Rahmen fällt. Mir gefällt die sagenhafte Energie, die in diesen Worten steckt. Am besten klingt es, wenn Ihr es laut vortragt.
Hier also nun Goethe:

Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken
Weibisches Zagen
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend
Macht Dich nicht frei.

Allen Gewalten
Zum Trotz sich erhalten
Nimmer sich beugen
Kräftig zu zeigen
Rufet die Arme der Götter herbei.

Dies alles kann ich in meiner Situation und überhaupt in der heutigen Zeit nicht wörtlich für mich annehmen und ich möchte kein Mensch sein, der immer so denkt und danach handelt. Hätte ich aber nur ein Quentchen dieser Energie, und könnte ich in manchen Situationen mich -kräftig zeigen- wäre ich nicht da gelandet, wo ich heute bin.
Liebe Grüße von GreenMandala
Ohne die Nacht wüssten wir nichts von den Sternen.
GreenMandala
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von GreenMandala »

Und dann habe ich hier noch etwas, dass verstehen am besten diejenigen, die mit Burnout Erfahrung haben. Der oder die mir unbekannte VerfasserIn, so schätze ich, kommt aus dem sozialen Berufsfeld...
Ob das nun Lyrik ist..., aber urteilt selbst:

Wir, die guten Willens sind,
geführt von Ahnungslosen
versuchen für die Undankbaren
das Unmögliche zu vollbringen.
Wir haben so viel
mit so wenig
so lange versucht,
dass wir nun imstande sind,
fast alles mit fast nichts zu erreichen.

Hierin finde ich mich gut wieder, nur der Glaube, dass ich noch irgendetwas erreichen könnte, ist mir abhanden gekommen.
LG GreenMandala
Ohne die Nacht wüssten wir nichts von den Sternen.
Äpfelchen
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von Äpfelchen »

...
misa

Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von misa »

depressionen

Vorvorgestern war ich fröhlich,
vorgestern hat sich’s gegeben,
gestern schlug ich Purzelbäume,
heute will ich nicht mehr leben.

Solch ein Zustand ist entsetzlich,
mich und meine Umwelt quäl ich;
doch er dauert nicht sehr lange:
morgen bin ich wieder fröhlich!

von heinz erhardt
Christine25
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von Christine25 »

Ach wie wunderbar ...

Wenn ich so wie heute an einem so richtig schlechten Tag in dieses Forum komme und die vielen neuen Gedichte lese, da werd ich gleich wieder ein bisschen fröhlicher.

Besonders gut gefallen mir die Gedichte von Erich Kästner und Heinz Erhardt ... irgendwie beruhigend zu wissen, dass diese genialen Menschen das gleiche fühlten wie so viele Andere ... naja, Genie und Wahnsinn hängen ja bekanntlichermaßen nah zusammen.

Lieber Friedrich,

vielen Dank für deine kleine Gedichtsinterpretation! Hast du wunderbar erklärt! Hatte irgendwie die falsche Herangehensweise ... weiß nicht wieso, aber konnte Benns Gedanken irgendwie nicht richtig "dekodieren" ... naja, aber ich finde es eigentlich auch nicht so schlimm über mögliche Interpretationen eines Gedichtes zu diskutieren. Klar, der schulische Beigeschmack von "Was will der Dichter uns sagen ..." ist ersteinmal da, aber man kann doch auch so über etwas diskutieren - jeder nimmt ein Geicht doch anders auf und jedem kommt dazu ein anderer Gedanke. Würde mich jedenfalls über Diskussionen/Interpretationen/persönlichen Gefühlen zu Gedichten freuen.

Green Mandala,

an dem Gedicht von Goethe gefällt mir besonders, dass es so positiv ist. Mal etwas ganz anderes als die ganzen traurigen, schwermütigen Gedichte. Ich kann deine Gedanken dazu gut nachfühlen ... wie sehr wünscht man sich, diese Stärke (wieder) zu besitzen. Die Arme auszubreiten, dieses Gedicht mit starker Stimme von einem Berg rufen und sich zu denken "Hier Welt, ich komme!"

Alles Liebe,

Chrissy
Nicht in der Erkenntnis liegt das Glück, sondern im Erwerben der Erkenntnis. (Edgar Allan Poe)
ben1
Beiträge: 1379
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Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von ben1 »

Bitte höre was ich nicht sage!


Charles C. Finn

Bitte höre, was ich nicht sage!
Laß Dich nicht von mir narren.
Laß Dich nicht durch das Gesicht täuschen, das ich mache, denn ich trage Masken, Masken, die ich fürchte, abzulegen.
Und keine davon bin ich. So tun als ob ist eine Kunst, die mir zur zweiten Natur wurde. Aber laß Dich dadurch nicht täuschen.
Ich mache den Eindruck, als sei ich umgänglich, als sei alles heiter in mir, und so als brauchte ich niemanden. Aber glaub mir nicht! Mein Äußeres mag sicher erscheinen, aber es ist meine Maske.

Darunter bin ich, wie ich wirklich bin: verwirrt, in Furcht und allein. Aber ich verberge das. Ich möchte nicht, daß es jemand merkt. Beim bloßen Gedanken an meine Schwächen bekomme ich Panik und fürchte mich davor, mich anderen überhaupt auszusetzen.

Gerade deshalb erfinde ich verzweifelt Masken, hinter denen ich mich verbergen kann: eine lässige Fassade, die mir hilft, etwas vorzutäuschen, die mich vor dem wissenden Blick sichert, der mich erkennen würde. Dabei wäre dieser Blick gerade meine Rettung. Und ich weiß es.

Wenn es jemand wäre, der mich annimmt und mich liebt... Das ist das einzige, das mir Sicherheit geben würde, die ich mir selbst nicht geben kann: daß ich wirklich etwas wert bin. Aber das sage ich Dir nicht. Ich wage es nicht. Ich habe Angst davor.

Ich habe Angst, daß Dein Blick nicht von Annahme und Liebe begleitet wird. Ich fürchte, Du wirst gering von mir denken und über mich lachen. Und Dein Lachen würde mich umbringen. Ich habe Angst, daß ich tief drinnen in mir nichts bin, nichts wert, und daß Du das siehst und mich abweisen wirst.

So spiele ich mein Spiel, mein verzweifeltes Spiel: eine sichere Fassade außen und ein zitterndes Kind innen. Ich rede daher im gängigen Ton oberflächlichen Geschwätzes. Ich erzähle Dir alles, was wirklich nichts ist, und nichts von alledem, was wirklich ist, was in mir schreit; deshalb laß Dich nicht täuschen von dem, was ich aus Gewohnheit rede.

Bitte höre sorgfältig hin und versuche zu hören, was ich nicht sage, was ich gerne sagen möchte, was ich aber nicht sagen kann. Ich verabscheue dieses Versteckspiel, das ich da aufführe. Es ist ein oberflächliches, unechtes Spiel. Ich möchte wirklich echt und spontan sein können, einfach ich selbst, aber Du mußt mir helfen. Du mußt Deine Hand ausstrecken, selbst wenn es gerade das letzte zu sein scheint, was ich mir wünsche. Nur Du kannst mich zum Leben rufen.

Jedesmal, wenn Du freundlich und gut bist und mir Mut machst, jedesmal, wenn Du zu verstehen suchst, weil Du Dich wirklich um mich sorgst, bekommt mein Herz Flügel, sehr kleine Flügel, sehr brüchige Schwingen, aber Flügel!

Dein Gespür und die Kraft Deines Verstehens, geben mir Leben. Ich möchte, daß Du das weißt. Ich möchte, daß Du weißt, wie wichtig Du für mich bist, wie sehr Du aus mir den Menschen machen kannst, der ich wirklich bin, wenn Du willst.

Bitte, ich wünschte Du wolltest es. Du allein kannst die Wand niederreißen, hinter der ich zittere, Du allein kannst mir die Maske abnehmen. Du allein kannst mich aus meiner Schattenwelt, aus Angst und Unsicherheit befreien, aus meiner Einsamkeit.

Übersieh mich nicht. Bitte übergeh mich nicht! Es wird nicht leicht für Dich sein. Die langandauernde Überzeugung, wertlos zu sein, schafft dicke Mauern. /Je näher Du mir kommst, desto blinder schlage ich zurück./ Ich wehre mich gegen das, wonach ich schreie. Aber man hat mir gesagt, daß Liebe stärker sei als jeder Schutzwall und darauf hoffe ich.

Wer ich bin, willst Du wissen? Ich bin jemand, den Du sehr gut kennst und der Dir oft begegnet.
abstrakte
Beiträge: 10
Registriert: 21. Jan 2009, 12:32

Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von abstrakte »

Liebe mich dann,
wenn ich es am wenigsten verdient habe,
denn dann brauche ich es am meisten.

Verfasser unbekannt
Christine25
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Registriert: 13. Jan 2009, 19:17

Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von Christine25 »

Hallo Ben,

ich fand dein Gedicht recht interessant vom Inhalt her, jedoch störte mich ein wenig die - in meinen Augen - fehlende lyrische Form und mich interessierte wer der Autor ist, da ich ihn nicht kannte. Wie ich dann herausfand, ist dein Text wohl eine der im Internet geläufigen Übersetzungen des Originaltextes in Englisch. Ich persönlich (Studentin der Anglistik ) finde den Originaltext wesentlich schöner, da er doch viele sprachlich-rethorische Feinheiten aufzeigt, die die deutsche Übersetzung leider missen lässt.

Hier also (für alle die dem Englischen mächtig sind ) noch einmal der Originaltext (von der Seite: http://www.poetrybycharlescfinn.com/pleasehear.html), der mir auch wesentlich länger erscheint.


Please Hear What I'm Not Saying


Don't be fooled by me.
Don't be fooled by the face I wear
for I wear a mask, a thousand masks,
masks that I'm afraid to take off,
and none of them is me.


Pretending is an art that's second nature with me,
but don't be fooled,
for God's sake don't be fooled.
I give you the impression that I'm secure,
that all is sunny and unruffled with me, within as well
as without,
that confidence is my name and coolness my game,
that the water's calm and I'm in command
and that I need no one,
but don't believe me.
My surface may seem smooth but my surface is my mask,
ever-varying and ever-concealing.
Beneath lies no complacence.
Beneath lies confusion, and fear, and aloneness.
But I hide this. I don't want anybody to know it.
I panic at the thought of my weakness exposed.
That's why I frantically create a mask to hide behind,
a nonchalant sophisticated facade,
to help me pretend,
to shield me from the glance that knows.


But such a glance is precisely my salvation, my only hope,
and I know it.
That is, if it's followed by acceptance,
if it's followed by love.
It's the only thing that can liberate me from myself,
from my own self-built prison walls,
from the barriers I so painstakingly erect.
It's the only thing that will assure me
of what I can't assure myself,
that I'm really worth something.
But I don't tell you this. I don't dare to, I'm afraid to.
I'm afraid your glance will not be followed by acceptance,
will not be followed by love.
I'm afraid you'll think less of me,
that you'll laugh, and your laugh would kill me.
I'm afraid that deep-down I'm nothing
and that you will see this and reject me.


So I play my game, my desperate pretending game,
with a facade of assurance without
and a trembling child within.
So begins the glittering but empty parade of masks,
and my life becomes a front.
I idly chatter to you in the suave tones of surface talk.
I tell you everything that's really nothing,
and nothing of what's everything,
of what's crying within me.
So when I'm going through my routine
do not be fooled by what I'm saying.
Please listen carefully and try to hear what I'm not saying,
what I'd like to be able to say,
what for survival I need to say,
but what I can't say.


I don't like hiding.
I don't like playing superficial phony games.
I want to stop playing them.
I want to be genuine and spontaneous and me
but you've got to help me.
You've got to hold out your hand
even when that's the last thing I seem to want.
Only you can wipe away from my eyes
the blank stare of the breathing dead.
Only you can call me into aliveness.
Each time you're kind, and gentle, and encouraging,
each time you try to understand because you really care,
my heart begins to grow wings--
very small wings,
very feeble wings,
but wings!


With your power to touch me into feeling
you can breathe life into me.
I want you to know that.
I want you to know how important you are to me,
how you can be a creator--an honest-to-God creator--
of the person that is me
if you choose to.
You alone can break down the wall behind which I tremble,
you alone can remove my mask,
you alone can release me from my shadow-world of panic,
from my lonely prison,
if you choose to.
Please choose to.


Do not pass me by.
It will not be easy for you.
A long conviction of worthlessness builds strong walls.
The nearer you approach to me
the blinder I may strike back.
It's irrational, but despite what the books say about man
often I am irrational.
I fight against the very thing I cry out for.
But I am told that love is stronger than strong walls
and in this lies my hope.
Please try to beat down those walls
with firm hands but with gentle hands
for a child is very sensitive.


Who am I, you may wonder?
I am someone you know very well.
For I am every man you meet
and I am every woman you meet.


Charles C. Finn
September 1966
Nicht in der Erkenntnis liegt das Glück, sondern im Erwerben der Erkenntnis. (Edgar Allan Poe)
flocke
Beiträge: 3603
Registriert: 13. Feb 2003, 09:52

Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von flocke »

Gedanken, tief
Im Ozean des Seins verborgen
Unter tausend trauertragenden Gefühlen
Verzweifelt, im Vakuum nach Atem ringend
Den Abgrund der Angst vor dem Sturz längst durchschritten
Am Ende des Kreises angelangt

Haupt, gesenkt
In der Masse der Körper verborgen
Unter tausend trauertragenden Gesichtern
Verzweifelt, in Einsamkeit nach Atem ringend
Den Abgrund des eigenen Seins längst durchschritten
Am Ende des Kreises angelangt


Ein echtes Flocke...na wenigstens bin ich stolz auf das was ich schreibe...
Pessimisten sind Optimisten mit Erfahrung
Zillah
Beiträge: 525
Registriert: 28. Aug 2008, 16:49

Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von Zillah »

Ein Buch ist ein Freund, der deine Fähigkeiten aufdeckt;
es ist ein Licht in der Finsternis
und ein Vergnügen in der Einsamkeit;
es gibt, und es nimmt nicht.

(Mosche Ibn Esra)

(sofern man sich darauf Konzentrieren kann... )
------



Die Musik drückt aus was nicht gesagt werden kann, worüber zu schweigen aber unmöglich ist.

Victor Hugo
gfb
Beiträge: 1864
Registriert: 20. Feb 2005, 21:30

Re: Lyrik gegen Depression

Beitrag von gfb »

Hai Zillah,

ich möchte dich ungern von deiner Nachtruhe abhalten, aber zum Thema "Bücher" kannst du mal klicken:

http://www.bibliomaniac.de/index.htm

Nein, NICHT den vierten Link in der rechten Spalte!

Ist ne sehr interessante Seite von einem Sachsen(!) zum Thema "bedrucktes Papier"...

Grüßle nebst Gewinke

Friedrich
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"Warum sind wir so kalt?

Warum? Das tut doch weh!"



Erika Mann, "Die Pfeffermühle"
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