Die latente und die manifeste Depression

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Denker
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Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Denker »

Das Thema liegt mir wirklich sehr am Herzen und ich bedanke mich schon jetzt für jeden konstruktiven Diskussionsbeitrag.

Zunächst für die nicht so Fremdwörterkundigen:
latent = verborgen
manifest = greifbar geworden (also das Gegenteil von latent)

Fast alle Fachbücher, die ich kenne, setzen sich ausschließlich mit der manifesten Depression auseinander, und das halte ich für ein großes Manko, wenn man die Depression wirklich verstehen will.

Den Begriff der „latenten Depression“ kenne ich eigentlich nur aus dem Buch von Josef Giger-Bütler: Sie haben es doch gut gemeint. (Sehr sehr empfehlenswert!)

Was ist damit gemeint? Jemand der latent depressiv ist, besitzt bereits die Denkweise, die Charakterstruktur, die zur Depression dazu gehört, nur ist die Depression bisher nicht sichtbar ausgebrochen. Die Lebensumstände sind so, dass die Depression nicht ausbricht, es fehlt ein Auslöser.

Vielleicht kann man es mit dem Immunsystem vergleichen. Wir sind ständig allen möglichen Bakterien und Viren ausgesetzt, ohne dass die Krankheiten auch ausbrechen müssen, die diese Viren nun mal verursachen können. Unter guten Bedingungen hält unser Immunsystem die Viecher in Schach. Ist das Immunsystem geschwächt, können die Krankheiten ausbrechen.

Und so ist es vielleicht auch mit unserem psychischen Immunsystem. Wird es (z.B. durch Dauerstress) geschädigt, kann aus der latenten Depression eine manifeste Depression werden.

Ich finde es auch sehr wichtig, zwischen Ursache und Auslöser der Depression zu unterscheiden. Die Ursachen dürften meist in der Kindheit liegen und oft nur zu einer latenten Depression führen, die Auslöser sind es dann, die zur manifesten Depression führen.

Warum liest man so oft, Depressionen seien gut zu behandeln? Warum liest man nicht, dass Depressionen gut heilbar sind? Kann es sein, dass die Behandlung, insbesondere die rein medikamentöse nur dazu führt, dass die manifeste Depression in die latente Depression zurück gedrängt wird?

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich halte die Medikamente in den meisten Fällen für sehr hilfreich. Sie können unnötiges Leiden verhindern und die Lebensqualität wieder deutlich anheben und haben damit sicher schon manches Leben gerettet. Aber ich glaube nicht, dass diese Pillen eine Depression wirklich heilen können. Sie sorgen lediglich dafür, dass wir wieder funktionieren, d.h. sie drängen uns auch nur in die latente Depression zurück. Aber sie sorgen auch dafür, dass wir in der Lage sind, geregelte Arztbesuche vorzunehmen und uns auf die Suche nach einem Therapieplatz zu machen.

Aus meiner Sicht gibt es eine große Gefahr bei den Antidepressiva: Dass sie so gut wirken, dass der Betroffene denkt, es ist doch wieder alles okay, ich funktioniere wieder wie früher, also brauche ich keine Psychotherapie.

Und was ist mit der Psychotherapie? Ich weiß nicht, ob sie Depressionen wirklich heilen kann, aber sie kann ganz sicher unser „psychisches Immunsystem“ stärken, z.B. dadurch, dass wir lernen, Dinge, die uns früher Stress gemacht haben, anders zu bewerten, so dass diese Dinge erst gar nicht zu einem Auslöser für eine neue Depression werden können. Durch die Erlaubnis, etwas Gutes für uns selber zu tun, laden wir unsere Batterien auf und haben bei Stress wieder etwas zuzusetzen, gehen nicht wieder gleich auf dem Zahnfleisch.

Neulinge im Forum äußern immer wieder einen Wunsch: Ich will wieder so sein wie früher, wie vor der Depression! In der Therapie erkennen sie dann oft, dass es genau dieses „früher“ ist, was sie krank gemacht hat. Viele ändern daraufhin etwas in ihrem Leben und sind der Depression im nachhinein oft sogar dankbar. Ich glaube, das kommt einer Heilung schon ziemlich nahe.

So, Denker hat jetzt lange genug gedacht. Jetzt seid ihr dran.

Gruß
Denker
Liber
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Liber »

Hallo Denker,

interessantes Thema!

Bei mir war es so, dass ich seit Beginn der Pubertät (eigentlich sogar noch eher) latent depressiv war, und dass diese latente Depression bei entsprechenden Auslösern von manifesten Depressionen abgelöst wurde.

Da ich aber kaum etwas anderes kannte, erschien mir dieser Zustand der latenten Depression als für mich "normal".

Das Leben war - auch in "guten" Phasen - immer überschattet von der dunklen Wolke.

Seit ich ADs nehme, zeigt sich diese Wolke seltener bzw. sie ist weiter weg, was ich als entlastend empfinde.

Entscheidender für die Sicht auf das Leben ist aber die Psychotherapie. Durch das Aufdecken meiner alten Muster und meiner unbewussten Blockierungen ist es mir jetzt eher möglich, achtsam mit mir zu sein. Ich muss nicht mehr in jedes Loch fallen, dass sich auf der Straße vor mir auftut.

Ursachen für depressive Muster liegen ganz sicher in der Kindheit. Diese mögen sehr tief eingeprägt sein.

Ich gehe mittlerweile davon aus, dass ich dadurch eine depressive "Grundveranlagung" habe, die mich bei Krisen zunächst mal - je weniger ich achtsam bin, desto mehr - mit Depression reagieren lässt.

Depression verstehe ich jetzt mal als innere Lähmung, als Richten eines Impulses, der eigentlich nach außen gehen sollte, gegen mich selbst. Sehr vereinfacht gesagt.


Ob es Heilung gibt? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist ja Akzeptanz der erste und wichtigste Schritt. Jedenfalls ist mir klargeworden: eine der Folgen meiner Erkrankung Depression nämlich das Erlangen eines tieferen Verständnisses von mir selbst, das möchte ich nicht mehr missen.

Viele Grüße

Brittka
otterchen
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von otterchen »

Hallo,

an diesem Satz hier bin ich hängen geblieben:
Warum liest man so oft, Depressionen seien gut zu behandeln? Warum liest man nicht, dass Depressionen gut heilbar sind? Kann es sein, dass die Behandlung, insbesondere die rein medikamentöse nur dazu führt, dass die manifeste Depression in die latente Depression zurück gedrängt wird?

Vielleicht liegt die Unterscheidung "behandelbar vs. heilbar" darin, dass der Depression in der Regel halt nicht nur mit Medikamenten beigekommen werden kann?
Vereinfacht gesagt: Medikament nehmen - geheilt.
Aber bei der Depression ist oft eine Umstellung der Lebensumstände, des Denkens, des Bewusstwerdens etc. gefragt - und da spielt der Depressive selbst eine große Rolle. Und er muss sich nicht nur zeitweise umstellen, bis diese "Sache" ausgestanden ist, sondern auch weiterhin darauf achten, nicht mehr in die alt eingefahrenen Schienen abzurutschen.
Es kann sich wohl kaum jemand zurücklehnen irgendwann nach einer Depression und sagen "ich bin geheilt" - und dann so weiter machen wie bisher bzw. wie früher.
Insofern könnte man vielleicht sagen, dass das Umsetzen des in der Therapie Gelernten eine quasi lebenslängliche Behandlung ist?

Und damit wäre er - ich kenne mich damit nicht aus! - wieder latent depressiv?
So wie ein Alkoholiker immer ein Alkoholiker bleibt, auch wenn er keinen Alk. mehr trinkt?

Vielleicht hängt der Begriff "latent / manifest" aber auch damit zusammen, wie hoch man mit dem Leidensdruck klar kommt, inwieweit man noch funktionieren kann? Jahrelang habe ich sicher latent depressiv gelebt - um irgendwann eine manifeste Depression zu bekommen.
In diesen Zustand der latenten Depression will ich wahrlich nicht wieder zurück - aber wenn ich später, nach der Therapie, das Erlernte im täglichen Leben umsetze, bleibe ich doch wahrscheinlich immer noch gefährdet und muss immer noch prüfen, ob ich nicht doch wieder in alte Verhaltensmuster abdrifte. Insofern: wohl doch wieder latent depressiv?

Bin neugierig auf die weitere Diskussion!
mein gelerntes Sammelsurium: https://otterchenblog.wordpress.com/
Bernd2

Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Bernd2 »

Hallo Brittka,

Du hast geschrieben:

"Ob es Heilung gibt? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist ja Akzeptanz der erste und wichtigste Schritt. Jedenfalls ist mir klargeworden: eine der Folgen meiner Erkrankung Depression nämlich das Erlangen eines tieferen Verständnisses von mir selbst, das möchte ich nicht mehr missen."
Zitat Brittka

Du hast es sehr treffend formuliert. Dem kann ich mich nur voll und ganz anschließen.

Gruß
Bernd
Denker
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Denker »

Ich freue mich, dass ihr das Thema aufgegriffen habt.

@brittka,
ich könnte fast jedes Wort in deinem Post unterschreiben. Es freut mich zu sehen, dass meine Gedanken nicht so abwegig sind.

@otterchen
der Vergleich mit dem Alkoholiker trifft es sehr gut. Auch ein trockener Alkoholiker ist ja nicht geheilt, sondern immer noch ein latenter Alkoholiker. Auch hier hilft nur die Achtsamkeit mit sich selber.

@bernd,
ja, die Akzeptanz ist ein wichtiger Schritt.

Bin gespannt, was noch so kommt.

Liebe Grüße
Denker
Liber
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Liber »

Hallo Denker und Otterchen,

es ist richtig, ein trockener Alkoholiker bleibt sein Leben lang ein Alkoholiker (das heißt, reagiert süchtig auf den Stoff Alkohol) - jedoch heißt das nicht automatisch, dass er nun latent krank ist.

Genauso wenig wie ein Depressiver, der achtsam mit sich umgeht und eine Besserung seines Zustandes erreicht, nun wieder im Zustand der latenten Depression ist.

Ich bin davon überzeugt, dass, ausgelöst durch solche Krankheiten, ein Tor zum eigenen Ich geöffnet werden kann, das vorher geschlossen war.

Dann wäre das Leben mit Achtsamkeit und Selbstbeobachtung kein Zustand in latenter Krankheit, sondern das Gehen eines ganz neuen Weges, der vorher nicht da war.

Klingt das nachvollziehbar oder eher verrückt ?


Viele Grüße
Brittka
Clown
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Clown »

Auf alle Fälle idealistisch, oder Brittka?

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Eckhart Tolle
otterchen
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von otterchen »

Hi Brittka,

Dann wäre das Leben mit Achtsamkeit und Selbstbeobachtung kein Zustand in latenter Krankheit, sondern das Gehen eines ganz neuen Weges, der vorher nicht da war.

Ja, wenn wir das schaffen - wenn wir das so trainieren und verinnerlichen können, dass wir diese neue Art zu leben auch umsetzen können.

Aber ich glaube, dahin werde zumindest ich nicht so einfach kommen - was über 40 Jahre eingeschliffen wurde, kann ich nicht in verhältnismäßig kurzer Zeit ablegen; diesem Druck, dieser Erwartungshaltung will ich mich auch gar nicht ausliefern.
Also brauche ich weiterhin Hilfestellungen: mich daran erinnern, dass ich achtsam bin, dass ich mir vieles in/an mir, um mich herum bewusst wahrnehme... und damit bleibe ich wohl latent depressiv.
Aber lieber so latent depressiv als der Zustand vor der Therapie!

@ Clown
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Liber
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Liber »

Clown

ja, kann gut sein



>Also brauche ich weiterhin Hilfestellungen: mich daran erinnern, dass ich achtsam bin, dass ich mir vieles in/an mir, um mich herum bewusst wahrnehme... und damit bleibe ich wohl latent depressiv. <

Hallo Otterchen, das, was du beschreibst (Achtsamkeit, bewusste Wahrnehmung), das ist doch schon, wie ich es sehe, ein Teil des neuen Weges!

Viele Grüße

Brittka
otterchen
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von otterchen »

ja genau Brittka - aber ich muss (will!) auf diesem Weg weitergehen, sonst geht's ja wieder abwärts - dazu bin ich quasi prädestiniert.

also gilt auch hier "sowohl / als auch"?!
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landei
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von landei »

Hallo Denker!

Habe schon gestern dein Posting gelesen aber ich wollte eine Nacht drüber schlafen, ehe ich antworte, weil ich mir vieles erstmal vor Augen führen mußte.

Ich sehe es auch so, das man vor Ausbruch der Krankheit latent depressiv gewesen sein muß, denn ich glaube, so eine Krankheit bricht nicht einfach so aus.

Die Nacht habe ich damit verbracht meine alten Tagebücher zu lesen und mir wurde bewußt, das alles wohl mit Eintritt aufs Gymnasium losging. Wow! So lange schon!

In der Grundschule war ich gerne, denn ich hatte einen imensen Wissensdurst und habe gerne gelernt aber in der 4. Klasse stellte man bei mir Legastenie fest und ich kam in einen Förderkurs, wurde "ausgesondert". Man empfahl meinen Eltern mich erstmal auf eine Realschule zu schicken aber sie waren der Ansicht, das "ihr Kind" aufs Gymnasium gehörte.
Ich habe mich dort nie wohl gefühlt, war immer Außenseiter, schrieb schlechte Noten, war aber doch ehrgeizig genug die Versetzungen immer irgendwie noch zu schaffen, oder es war eher Angst, denn der Druck zu hause war imens!

Egal, ich habe dann jedenfalls das Abitur geschmissen, ich wollte es meinen Eltern so richtig zeigen.... und seit dem, bin ich ganz unten durch bei ihnen.

Aber ich komme vom Thema ab. Also ich habe mit der Einschulung aufs Gymnasium begonnen Tagebücher zu schreiben und die klingen aus heutiger Sicht sehr schlecht, das ist nicht nur die Pubertät gewesen und das war auch die Zeit, wo meine Gewichtsprobleme anfingen, weil ich alles nur noch in mich reingefressen habe.
Ich konnte ja mit niemandem reden, meine Oma starb drei Monate nach meiner Einschulung am Gymnasium.

Es hat also über 20 Jahre gedauert, bis aus der latenten eine akute Depression wurde und ich kann mir nicht vorstellen, das mal so lange verinnerlichtes Denken und Fühlen und Handeln einfach ablegen kann.
Gehen wir mal davon aus, das es mindestens so lange Therapie braucht, um auf Null zu sein, dann braucht es wieder Jahre um dazu noch ein neues Verhalten anzunehmen... wie alt ist man da? Erlebt man es noch? Ist man nicht prädestiniert dafür irgendwann wieder "falsch abzubiegen" und erneut in eine Sackgasse zu geraten?

Ich persönlich glaube nicht, das Depression heilbar ist aber sie ist behandelbar aber dieses dauert meiner Meinung nach ein Leben lang, denn man hat immer schlechte Tage, wo man wieder im Loch sitzt und keine Kraft hat und man fängt immer wieder an, jeden Tag neu, gegen diese Krankheit anzugehen.

Ich sage bewußt nicht kämpfen, weil das Quatsch ist. Die Krankheit hat auch ihre Guten Seiten, sie schützt mich vor mir selbst. Verlange ich wieder mal zu viel von mir, kommt sie und bremst mich aus, läßt mich handlungsunfähig werden und ich muß mich wieder mit mir selbst beschäftigen.

Sie ist zu einer Art "Freund" geworden, der einem eben auch mal Unangenehmes sagen darf.

Klingt bestimmt alles blöd aber ich weiß es nicht anders in Worte zu fassen.

LG Schattenspiel
Dass mir der Hund das Liebste sei, o Mensch, sagst Du sei Sünde. Ein Hund bleibt Dir im Sturme treu, der Mensch nicht mal im Winde!

( Franz v. Assisi )
Denker
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Denker »

Liebes Schattenspiel,
das klingt überhaupt nicht blöd! Und du bist auch nicht vom Thema abgekommen, sondern beschreibst genau das, was ich meine. Du klingst nur ein wenig pessimistisch, vielleicht weil es dir im Moment nicht so gut geht? Auf der anderen Seite kann ich auch verstehen, dass es ganz schön deprimierend ist, zu erkennen, wie lange einen die Krankheit schon im Griff hat, wie viel vom Leben die Krankheit einen schon gekostet hat.

Deine alten Tagebücher, die sind ein echter Schatz! Meine Tagebücher fangen leider erst an, als ich schon etwa 20 bin. Lese ab und zu gerne darin. Manchmal frustriert es auch, weil ich sehe, dass sich an manchen Problemen nichts geändert hat.

Ich denke, diese Leistungsorientierung deiner Eltern ist eine ganz klassische Falle. Mir ist es auch so gegangen: Ich habe gelernt, dass ich Liebe und Anerkennung nur dann bekomme, wenn ich dafür etwas besonderes leiste. Darüber habe ich meine eigenen Bedürfnisse komplett verlernt. Wer bin ich eigentlich?

Ich bin jetzt 48 Jahre alt und habe seit mindestens 30 Jahren diese latente Depression. Selbst wenn ich jetzt 30 Jahre Therapie bräuchte, was wäre die Alternative? Aber ich denke, dass ist einer der Punkte, den du derzeit etwas zu pessimistisch siehst.

Viele haben hier ihre Skepsis bzgl. einer Heilbarkeit der Depression zum Ausdruck gebracht, aber so ziemlich alle kommen zu dem Ergebnis, dass man lernen kann, mit der Depression zu leben (und das dauert sicher keine 20-30 Jahre!).

Und wie du ja auch sagst, hat die Depression für uns eine Botschaft und damit einen Sinn.

Liebe Grüße
Denker
landei
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von landei »

Huhu Denker!

Oh, vielleicht klang es pessimistischer als es klingen sollte.

Ich wollte nicht sagen, das es keinen Sinn macht eine Therapie zu machen sondern ganz im Gegenteil!

Aber die Therapie wird einem vermitteln wie man mit der Krankheit lebt, ich denke einfach, das die Lebenszeit, die man hat, nicht reicht, um etwas "auszulöschen". Man muß ja erstmal etwas verlernen um eine neue Denk- und Handlungsweise zu lernen und ich glaube halt nur, das dieser Prozess nicht möglich ist.

Also zielt meiner Meinung nach die Therapie darauf ab, zu erkennen und gegenzusteuern oder einfach zu akzeptieren.

Wenn ich also ein Leben lang durch Leistung Anerkennung von meinen Eltern haben wollte, diese aber dann auch nicht bekam, dann macht es keinen Sinn, da ein anderes Muster zu lernen, sondern zu akzeptieren, das ich es ihnen niemals Recht machen kann und es dabei belassen.

Verstehst du, was ich meine?

Ich glaube ich habe nie auf meine Bedürfnisse geachtet, ich wollte es immer allen Recht machen, angepaßt und unauffällig durchs Leben gleiten und dabei bin ich auf der Strecke geblieben! Ich erkenne langsam, das ich ein Mensch bin mit eigenen Gefühlen, Bedürfnissen, Stärken und Schwächen und das erschreckt!

Es ist einfacher das Leben zu leben, das andere für einen bestimmen und denen dann die Schuld für alles zu geben - es ist aber verdammt schwer Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, sein Anspruchsdenken sich selbst gegenüber abzulegen und umzudenken!

Dabei hilft mir die Therapie und ich habe Angst, es ohne Therapie nicht zu schaffen.

Sag mal, wenn du auch Tagebuch schreibst, ist dir schon mal aufgefallen, wann du schreibst?
Ich meine, mir ist aufgefallen, das ich immer nur Tagebuch schreibe, wenn es mir schlecht geht / ging. In meinen alten, und meinem aktuellen Tagebuch steht nie etwas Positives drin, etwas Schönes, etwas was mir gelungen ist oder über das ich mich freue.... es stehen immer nur die schlechten Dinge meines Lebens drin.

Ich benutze es also scheinbar als eine Art Zwiegespräch: Problem oder Gedanke aufgeschrieben und dann mit mir ausgefochten.

Geht dir das auch so?

LG Schattenspiel
Dass mir der Hund das Liebste sei, o Mensch, sagst Du sei Sünde. Ein Hund bleibt Dir im Sturme treu, der Mensch nicht mal im Winde!

( Franz v. Assisi )
Denker
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Denker »

Ja, ich verstehe genau was du meinst. Die Therapie hilft dabei, solche Muster aufzudecken und erst dann kann man das akzeptieren oder vielleicht sogar ändern. Und man wird dann diese Muster auch in anderen Lebensbereichen entdecken und vielleicht kann man irgendwann auch anders reagieren.

So wie du den schleichenden Verlust deiner Persönlichkeit beschreibst, so habe ich das auch für mich erlebt. Das Buch von Giger-Bütler hat mir dafür die Augen geöffnet. Ich bin unendlich dankbar für dieses Buch!

Das Tagebuch schreiben ist bei mir etwas in den Hintergrund getreten, seid ich diese Foren kenne. Habe nicht das Gefühl, dass ich besonders dann schreibe, wenn es mir schlecht geht. Habe eher so das Gefühl, dass ich dann schreibe, wenn ich etwas für mich klar kriegen will, meine Gedanken sortieren will.

Liebe Grüße
Denker
Clown
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Clown »

Hallo Schattenspiel, Denker, ... , alle,

«Es ist einfacher das Leben zu leben, das andere für einen bestimmen und denen dann die Schuld für alles zu geben - es ist aber verdammt schwer Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, sein Anspruchsdenken sich selbst gegenüber abzulegen und umzudenken!»

Sprich: Es ist verdammt schwer, erwachsen zu werden.

Mich zwingt Leidensdruck dazu, ob ich es latente/manifeste Depression nenne oder anders, darauf läuft es einfach hinaus.

Wie werden andere Menschen erwachsen, die keine depressiven Zustände kennen? Die haben anderes Leid oder werden nicht erwachsen - sehe ich das zu pauschal?

Grüße,
Clown
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Eckhart Tolle
otterchen
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von otterchen »

Hallo Clown,

meine Therapeutin benutzte in diesem Zusammenhang mal das Wort "resilient".

Schau doch mal unter Wikipedia "Resilienz". Das ist vielleicht eine Eigenschaft, die den Depressiven (mal so ganz pauschal gesprochen) fehlt?
mein gelerntes Sammelsurium: https://otterchenblog.wordpress.com/
Liber
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Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Liber »

Hallo Denker und Schattenspiel

ich habe das Tagebuchschreiben für mich ganz neu entdeckt. Früher schrieb ich auch meist nur, wenn es mir schlecht ging und zwar in einer um mich selbst und all die Umstände und Probleme kreisenden Art.

Dann schrieb ich viele Jahre nicht mehr, weil mir dies nicht half.

Nach Abschluss meiner PA habe ich erneut begonnen, Tagebuch zu schreiben - erst mal als "Ersatz" fürs Reden. Und sehr ähnlich wie in der PA gehe ich auch jetzt an das Schreiben heran. Ich beschreibe nicht etwas, was ich schon weiß, zum Beispiel ein Problem oder Ereignisse, sondern ich lasse kommen, was gerade in mir ist. Vielleicht einen Traum oder ein Körpergefühl oder ein Gedanke. Und dann versuche ich, mich schreibend daran anzunähern. Dabei kommt es überhaupt nicht auf Satzbau oder Rechtschreibung an. Ich schreibe ausschließlich für mich und völlig unzensiert.

Es geht manchmal erstaunlich gut und ich "erkenne" ein Puzzleteilchen! Natürlich nicht immer, aber das war bei meinen PA-Stunden ja auch nicht anders. Gute ergiebige Stunden wechselten mit zähen Stunden ab.

Im Moment bin ich angetan von dieser Art des Schreibens, es ermöglicht mir einen Zugang zu mir selbst. Auch das Schreiben in Foren ersetzt ihn nicht bzw. in den Foren ist es durch die Wechselwirkung mit anderen eine andere Art des Schreibens, wiederum mit anderen Vorteilen.

In Wikipedia steht etwas dazu unter "Kreatives Schreiben":

>Therapie und autobiografische Selbstreflexion - Schreibprozesse haben häufig eine therapeutische Dimension: Eigene Erlebnisse und Erfahrungen, Ängste und Wünsche werden nach Sigmund Freud schreibend aufgegriffen und gestaltet. Regelmäßige Schreiberfahrung kann dazu führen, Entdeckungen über unbewusste Neigungen und Wünsche zu machen, weil der Schreibprozess immer wieder zu ähnlichen Themen, Stichworten und weiterführenden Gedanken führt. Dieses Phänomen lässt sich therapeutisch nutzen. Ähnlich wie das selbstverständliche Sprechen in der Therapie ist Schreiben eine Form von Selbstausdruck, bei der der Schreiber nicht nur handelt, sondern zugleich das Ergebnis seines Handelns betrachtet. Jürgen vom Scheidt unterscheidet deshalb zwischen dem inneren Schreiber und dem beobachtenden Ich. Obwohl die meisten Schreibprozesse in dieser Perspektive betrachtet werden können, ist es ratsam, den bewussten therapeutischen Einsatz kreativer Schreibmethoden professionell von einem Poesie- und Schreibtherapeuten begleiten zu lassen.<

Einen Schreibtherapeuten habe ich nicht, ich kann es aber empfehlen, es einfach mal zu versuchen.


Liebe Clown,

ich bin mir nicht sicher, ob die latente und manifeste Depression das Erwachsenwerden bzw. das Annehmen der Selbstverantwortung nicht sogar über Zeiten hinweg verhindern kann, da sie Veränderung entgegensteht. Der depressive Mensch reagiert ja zunächst mit Rückzug auf Konflikte und anstehende Entscheidungen. Erst ab einem gewissen Punkt, wenn der Leidensdruck zu groß wird, kann es mit therapeutischer Hilfe gelingen, sich auf die Suche nach sich selbst zu machen.

Abgesehen davon kenne ich Menschen, die ohne ausgeprägtes Leid "erwachsen" geworden sind und Menschen, für die erfahrenes Leid immer nur Beispiel für die "Ungerechtigkeit" des Lebens war und sie in ihrer Opferhaltung bestätigt hat.

Das ist noch ein komplexes Thema, denke ich!

Lieben Gruß
Brittka
zonebleue
Beiträge: 3
Registriert: 22. Okt 2007, 01:52

Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von zonebleue »

Liebe Alle....
zugegeben hab ich das alles nur quergelesen - und ich ahne warum:
"Jedenfalls ist mir klargeworden: eine der Folgen meiner Erkrankung Depression nämlich das Erlangen eines tieferen Verständnisses von mir selbst, das möchte ich nicht mehr missen."
Wenn ich vom Ausgangsposting ausgehe würde das (für mich) in Konsequenz heißen, das falsche (latent depressive) Leben, dass ich zuvor geführt habe müßte ich als Falsch anerkennen, ja mehr noch, ich müßte anerkennen, dass ich zu gewissen Teilen selber schuld wäre, weil ich mich wohl schlichtweg geweigert habe, mich mit mir auseinander zusetzten... mit meinen möglichen niedrigen Beweggründen, Feigheiten... etc. Ich käme auf kein schmeichelhaftes Ergebniss (und ich möchte mir ja nun mal schmeicheln lassen)..
Aber jenseits dessen, auch das Eingeständnis einer manifesten Depression folgte ja dem gleichen Gesetzt eines Ursache/Wirkungs - Prinzips und ich käme auch ohne die latente Phase vorweg wieder zu dem gleichen Ergebnis: selber Schuld...Sicherlich verhält sich die Latente Depression zur manifesten wie eine ewig verschleppte Grippe (weil konsequent mit Aspirin Brutal betäubt) zur Grippe die man mal eben vernünftig auskuriert. Interessanter Weise ist der Mechanismus der da greift der gleiche: Funktionieren um jeden Preis. Vielleicht sollte man nicht mehr von Depression sondern Supermannsyndrom (danke geht schon, nein-nein alles bestens...)sprechen? Zumindest wäre das bei mir die bessere und für Nichtbetroffene sicherlich die verständlichere Beschreibung..
zonebleue
Liber
Beiträge: 1491
Registriert: 4. Jun 2006, 18:09

Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von Liber »

>"Jedenfalls ist mir klargeworden: eine der Folgen meiner Erkrankung Depression nämlich das Erlangen eines tieferen Verständnisses von mir selbst, das möchte ich nicht mehr missen." Wenn ich vom Ausgangsposting ausgehe würde das (für mich) in Konsequenz heißen, das falsche (latent depressive) Leben, dass ich zuvor geführt habe müßte ich als Falsch anerkennen, ja mehr noch, ich müßte anerkennen, dass ich zu gewissen Teilen selber schuld wäre, weil ich mich wohl schlichtweg geweigert habe, mich mit mir auseinander zusetzten... mit meinen möglichen niedrigen Beweggründen, Feigheiten... etc. <

Hallo Zonebleue,

nein, das hat mit Schuld nichts zu tun!

Im Gegenteil. Die Phasen der Depression zeigen mir nur unmissverständlich, dass etwas nicht stimmt. Und ich werde durch sie gezwungen, genauer hinzuschauen, was das denn ist.

Gerade dadurch, dass ich nicht mehr "funktioniere", werde ich ja erst darauf gestoßen. Warum sollte ich es tun, solange alles klappt, ich mich relativ gut fühle, genug Bestätigung von außen bekomme, vielleicht Karriere mache usw usw ? Solange es so läuft, habe ich doch keinen Anlass dazu, etwas zu hinterfragen. Vielleicht ist da nur ein latentes Gefühl von "ist das jetzt alles"? Oder da ist die latente Depression, die aber als "normal" interpretiert wird - und es ist keine Frage von "Schuld", wenn ich sie nicht als solche erkennen kann.

Die Auseinandersetzung mit den eigenen Schattenseiten (Feigheit usw.) ist schmerzhaft - und ein ganz wichtiger Bestandteil davon ist, sie anzuerkennen (und sie sich vergeben) und sie (und sich selbst) nicht zu verdammen.

Mittlerweile treffe ich folgende Unterscheidung: wenn ich wegen irgendetwas Schuldgefühle habe, ist das ein depressiver Anteil - gesunde Auseinandersetzung mit sich selbst führt nicht zu Schuldgefühlen.

Viele Grüße

Brittka
zonebleue
Beiträge: 3
Registriert: 22. Okt 2007, 01:52

Re: Die latente und die manifeste Depression

Beitrag von zonebleue »

Liebe Brittka,

ja, so kann und sollte man das sehen, aber ich glaube dass bei vielen eben erstmal genau dieser idiotische Gedankengang der Schuldfrage verbunden mit einer enormen Scham abläuft, die in einigen vielen Fällen sukzessive zu Isolation und Vereinsamung führt. "Gesund" wäre es in der tat, sich zu verzeihen und den von Dir aufgezeigten Weg einzuschlagen. Dennoch fände ich es "amüsanter" vom Supermannsyndrom zu sprechen - da fällt die latente (um auf den Anfangsthread zurückzukommen) stigmatisierung (vor der ja nun mal auch viele Angst haben - inklusive mir) weg und es fällt einem leichter sich auch mal zu belächeln...

Lieben Gruß
zonebleue
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