Verletzte Gefühle überwinden II

tomroerich
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von tomroerich »

Hi Brittka,

ja genau das ist es! Genau das ist Selbsterinnerung. Du siehst dich einfach selbst, wie du gerade bist. Dadurch bekommst du deinen Mittelpunkt und entgehst den zersetzenden Einflüssen deiner Sorgen und Gefühle. Von diesem Mittelpunkt aus ordnet sich alles wie von alleine - mit der Zeit. Du siehst, was unnötig ist. Du denkst, was tue ich hier eigentlich gerade, warum fühle ich mich wieder so verletzt. Und das in einem Augenblick, wo das Gefühl der Verletzung wirklich da ist. Das ist ein springender Punkt. Denn nur so kannst du das, was geschieht, wirklich sehen. Denkst du später darüber nach, wenn das Gefühl schon wieder nachgelassen hat, kannst du nur darüber nachdenken, wie es war. Die Erinnerung beinhaltet nur das, was du im ident. Zustand erlebt hast. Das Wichtigste fehlt einfach.

Es gibt einen sehr einfachen Zusammenhang zwischen Selbsterinnerung und Erinnnerung. Wir können uns nur an die Dinge erinnern, die wir im Zustand der Selbsterinnerung gesehen haben. Von den anderen wissen wir nur, dass sie geschehen sind. Wenn ich mich selbst sehe, werde ich mich daran erinnern können und zwar in der Form, dass auch Gefühle und Gedanken erinnert werden können. Darauf beruht eine Technik, die man in recht vielen Formen antreffen kann und die sich "Rückwärtserinnern" nennt. Man setzt sich abends hin, entspannt sich etwas, vielleicht durch eine kurze Meditation oder etwas anderem, das einen ruhig werden lässt und lässt dann den Tag an sich vorüberziehen, wobei man von spät nach früh erinnert. Man sollte es so intensiv wie möglich tun und versuchen, den Tag so genau es geht zu rekonstruieren. Man wird lebhafte Erinnerungen finden und solche, die nur sehr verschwommen sind. Vieles wird man überhaupt nicht erinnern. Achtet besonders darauf, wie eine Erinnerung an ein neg. Gefühl aussieht. Als ich ärgerlich war oder verletzt. So erfährt man im Nachhinein, zu welchen Augenblick man in der Selbsterinnerung war, und das wird einem helfen, die Augenblicke der Selbsterinnerung zu vermehren weil man ein Gefühl dafür bekommt, wie es ist, sich seiner selbst zu erinnern.

Und es erklärt noch eine andere Sache. Warum weiß ich nicht, wann ich ich mich an mich selbst erinnere? Weil keine Erinnerung gebildet wird, wenn ich es nicht tue, ganz einfach. Das heißt im Klartext, dass wir einen großen Teil unseres Wachbewusstseins einfach verschlafen. Wir sind einfach nicht da. Genau so, wir wir vom Schlafzustand nur die Träume erinnern können, können wir vom Wachzustand nur die Augenblicke erinnern, in denen wir uns unserer selbst erinnert haben. In den übrigen Augenblicken waren wir in einer Art von Wachkoma, in dem man handeln, reden, denken, fühlen kann. Bloß passierte es automatisch und ohne, dass wir dabei waren. Wem das allzu abenteuerlich erscheint: Man kann wissenschaftlich erfassen, wann ein Mensch bewusst ist und wann nicht. Dabei stellte es sich heraus, dass er den größten Teil des Tages nicht bewusst ist. Wir sind also von schlafenden Menschen umgeben und am tiefsten schlafen sie, wenn sie gerade negative Gefühle haben. Wenn man das versteht, kann man auch verstehen, warum die Welt so ist, wie sie ist. Und es bedeutet auch, dass man jemanden nicht wirklich dafür verantwortlich machen kann für das, was er schlafenderweise tut. Wäre er immer wach, würde er vieles einfach nicht tun. Mord, Hass, Raub, Krieg, Vergewaltigung sind nur möglich im Schlafzustand. Im Zustand der Selbsterinnerung sind das vollkommen sinnlose Handlungen. Und es bedeutet, dass Menschen nicht böse oder gut sind. Sie schlafen oder schlafen nicht. Ich weiß, das ist sehr sehr ungewöhnlich, aber ich wollte diesen Gedanken hier nur ganz kurz vorzustellen.

Klammer auf: Für religiös Interessierte: Im Neuen Testament ist sehr viel die Rede vom Schlaf, vom Tod und vom Erwachen. Z.B. "Lasst die Toten ihre Toten begraben" oder "Wachet, denn ihr wisst nicht die Stunde, da der Herr kommt" Was hier gemeint ist, ist der seelische Schlaf, das Nicht-Im-Selbst sein. Der Herr hat nichts zu tun mit Gott oder so, es ist das Selbst, das gemeint ist und das die "Herrschaft" im Menschen übernimmt. Klammer zu.

So long, ihr Lieben. Sag mal Andreas, wie weit bist du denn mit dem Rätsel? Bei richtiger Lösung gibts ne Büchse Fisch und eine Kutschfahrt durch die Eifel!

Thomas
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tomroerich
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von tomroerich »

Liebe Maruschka,

Das Selbst ist unabhängig von Freude und Leid.

Der Satz von dir Emely hat mich förmlich elektrisiert. Kann es aber noch nicht verbalisieren.

Der Satz stimmt genau. Ich würde ihn noch ergänzen und sagen: Das Selbst ist von allem unabhängig. Es ist das Gefäß und nicht der Inhalt. Gut, dass du elektrisiert bist. Das heißt einfach, dass du weißt, was es bedeutet. Vergiss es nie mehr! Aber damit muss immer gerechnet werden, dass es wieder entgleitet. Es dauert lange, bis man es stabil hat - ich habe auch immer wieder zu kämpfen. Es ist wie der Genesungsprozess der Depression - auf und ab.

Lieben Gruß von

Thomas
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tomroerich
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von tomroerich »

Hi Ben,

Wenn mein "selbst" mein "ich" beobachtet, kann es sehr leicht passieren, das an die Stelle des "selbst" das "über-ich" tritt, was konkrte bedeutet: Wenn ich meine Beobachtung meines "ich" mit Wertung betreibe (gut/schlecht) ist meiner Meinung nach nicht das "selbst", der Kern, am Werk, sondern mein Überich (das wertet, das immer alles besser weis, das mein Gewissen ist usw.)

Um ein realistisches Bild meines "ich" zu erhalten, haben Wertungen erstmal nix verloren. Ich kann mich beobachten, wenn ich neidisch, rücksichtslos, unbeherrscht usw. bin und nehme das erst mal zur Kenntnis.

Das Selbst wertet nichts. Wenn ich glaube, im Selbst zu sein und dabei aber wertende Urteile über mich habe, dann denke ich in Wirklichkeit über mich nach. Und es stimmt, dass diese Verwechslung auftreten kann. Es kann wirklich passieren, dass man in Selbst-Erkenntnis (so langsam schält sich hier wunderschön heraus, was das eigentlich ist) sofort ins Denken überwechselt und anfängt, das, was man sieht, zu bewerten. Das bedeutet aber, dass man sich schon wieder vergessen hat - man ist gleich wieder mit Gedanken identifiziert und meint nur, sich selbst zu erkennen, weil man ja über sich nachdenkt. Aber gerade das ist nicht Selbsterinnerung.

Gruß an dich,

Thomas
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Clown
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Clown »

So, Thomas, und was ist nun das Verhältnis von Liebe und Selbst? Das Selbst wertet nicht, wie erlebt es Liebe? Allumfassend, wirst du sagen. Bedürfnislos? Es ist dann praktisch egal, mit welchem Partner ich zusammenbin?


Grüße,
Clown
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DorleB
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von DorleB »

Euch allen einen guten Abend, ,

da bin ich gerade mal 2 2/1 Tage offline und hier passiert so so viel! Ich bin begeistert!

Liebe(r?) Clown, Du hast mir geschrieben:

Auch dein 'Dich-zufrieden-geben' enthält eine Bewertung, die nach meinem Empfinden einfach nicht mehr vorhanden ist, wenn ich in meinem Selbst bin.

Das habe ich, glaub ich, nicht gut formuliert. Was ich meinte, war:
Hinter der Redewendung „sich mit etwas zufrieden geben“ liegt oberflächlich betrachtet erst mal eine Abwertung, wie Du richtig bemerkt hast.
Tiefer geblickt klingt da für mich aber auch ein (anders betontes) „sich zu Frieden geben“, also vielleicht „sich dem Frieden (hin)geben“, letztlich „mit im Frieden sein“ an. Und „Frieden“ bedeutet für mich „im Einklang“, also „in Harmonie“ sein – meine Formulierung für im Selbst sein. War das besser erklärt?


Hi Thomas, Du hast Ben geschrieben:

Das Selbst wertet nichts. Wenn ich glaube, im Selbst zu sein und dabei aber wertende Urteile über mich habe, dann denke ich in Wirklichkeit über mich nach. Und es stimmt, dass diese Verwechslung auftreten kann. Es kann wirklich passieren, dass man in Selbst-Erkenntnis […] sofort ins Denken überwechselt und anfängt, das, was man sieht, zu bewerten. Das bedeutet aber, dass man sich schon wieder vergessen hat - man ist gleich wieder mit Gedanken identifiziert und meint nur, sich selbst zu erkennen, weil man ja über sich nachdenkt. Aber gerade das ist nicht Selbsterinnerung.

Ganz genau DAS passiert bei mir ständig! Ich hätte es nicht so in Worte fassen können, aber nach einem „Ereignis“, das auf einer anderen Ebene war, schaltet sich sofort eine Instanz dazwischen, die das Geschehene zu Tode kommentiert.
Es ist wie wenn man eine Seifenblase einfangen will: sie geht kaputt, und aus etwas Wunderbaren wird eine Pfütze Seifenwasser.

Ich habe ausprobiert, an was vom Tag ich mich heute Abend noch erinnern kann. Es waren immer die stillen Momente, in denen ich etwas beobachtet habe, eine Aussicht aus dem Zugfenster, das Gesicht eines Menschen, und da waren – wie soll ich sagen – ja, da sind keine Sätze, einzelne Worte ja, Tonfälle ja, Gefühle ja, aber keine ganzen Sätze, weder von mir noch von anderen. Dabei fällt mir auf, dass ich mich gar nicht „sehe“. Ich kann nicht aus mir heraus oder neben mich treten, wie Ihr es hier geschildert habt. Meint Ihr das im übertragenen Sinne oder „seht“ Ihr Euch wirklich wie von außen?

Es ist, als hätte ich, wann immer ich „wach“ bin, eine Stimme im Kopf, die fast nie still ist, so wie ein sprechender Spiegel, der mir mein Leben erzählt. Er hat eine Meinung zu allem, was je passiert ist, was je passieren könnte, und er erzählt mir und wertet alles, was aktuell passiert. Er redet es kaputt, als wenn er sterben müsste, wenn er schweigt. Ist das dieses „Über-ich“ von dem Ihr geschrieben habt?

Fragen über Fragen…

Liebe Grüße
Vom Dorle (?)




Wir alle suchen nach Etwas, das uns schon längst gefunden hat
Guitaranderl

Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Guitaranderl »

>Wenn du dein Leben überdenkst und du dir klar machst, wie es verläuft, dann wirst du sicherlich wie jeder andere Mensch feststellen, dass seine vordergründigste Eigenschaft ist, dass es sich permanent ändert. Ständig machen wir neue Phasen des Lebens durch, kein Tag ist wie der andere.

>Aber eines ist doch jeden Tag gleich. Was ist es?

Thomas,
besten Dank für das lukrative Angebot von Dosenfisch und Kutschfahrt. Darauf muss ich dann aber wohl verzichten, weil ich keinen blassen Schimmer habe, was Du meinst....

Verrätst Du es mir eventuell trotzdem?

Grüße aus HH
A.

NS.: Eines fällt mir nun doch ein: Ich atme.
Emely
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Emely »

Die Antwort ist immer dieselbe:
das Selbst.

Emely
Guitaranderl

Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Guitaranderl »

Als Wesen, das sein Skelett (noch) zu einem Großteil im Außen als im Innen trägt, wäre mir diese Auflösung, Emely, zu abstrakt, zu wenig nachvollziehbar.
Und ich glaube auch nicht, dass Thomas das meinte. Dann hätte er nicht so leichtfertig ne Dose Fisch ausgelobt.
Also, Thomas, was sagt er..

Grüßle
Andreas
ben1
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von ben1 »

Hallo Clown

darf mal ganz vorlaut für Thomas antworten oder es zumindest versuchen.

Du fragst nach dem Verhältnis von Selbst und Liebe. Aus meiner Sicht empfindet das Selbst nicht Liebe, sondern IST das Selbst die Liebe. Und die Erklärung ist sehr einfach. Wenn ich etwas (mein ich, andere Menschen, Siutationen) nicht verurteile (mach ich ja nicht, wenn ich im Selbst bin), dann bleibt nur uneingeschränkte, bedingungslose Liebe. Aber Achtung - das bedeutet NICHT das ich mich mit allem und allen einverstanden erkläre. Durch die uneingeschränkte Wahrnehmung und Anerkennung dessen, was ist, erwächst auch eine große Energie zur Gestaltung bzw. Veränderung dessen, was ist.

Sich selbst ein guter Vater/eine gute Mutter zu sein bedeutet genau das. Erst mal uneingeschränkt gucken, was da ist und alles anerkennen, die "guten", wie die "schlechten" Seiten - und dann ganz behutsam anfangen, mit diesen Eigenschaften zu spielen.

Ben
Guitaranderl

Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Guitaranderl »

Hallo Ben,

schon lange her, dass wir Kontakt hatten. Finde ich sehr spannend, was Du hier so schreibst. Weiter oben hast Du das Thema "Gewissen" (Überich) als Kontrollinstanz ins Spiel gebracht. Wenn ich Deinen Ansatz fortführe, keimt in mir die Idee, dass ein ausgewogenes Miteinander von Bewusstsein, Selbst und Gewissen zwangsläufig zur Liebe fühlt. In Asien gibt es das Sprichwort: Lieben heißt, keine Angst zu haben.
Das genannte Miteinander der verschiedenen Ebenen führt vielleicht in diesen Zustand.

Mein lieber Irrenarzt sagte mal zu mir: Vergleichen Sie sich mit einem 1-Stöckigen Haus; wenn 1. Stock, Erdgeschoss und Keller einen guten Kontakt haben, dann ist es gut.
Ja, ich glaube, es geht um Kontakt. Nur im Kontakt entsteht Liebe, meine ich...

Herzliche Grüße nach ?
Andreas
tomroerich
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von tomroerich »

Liebe Clown, lieber Ben,

genau die gleiche Antwort hätte ich auch gegeben.

Ben, ich bitte um Vorwitz Ich will diesen thread ja nicht alleine gestalten. Und für mich ist es immer wertvoll zu sehen, dass andere auch so denken.

Thomas
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tomroerich
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von tomroerich »

Lieber Andreas,

ich hoffe, mein kleiner Scherz kam bei dir nicht despektierlich rüber. Das ist so ein stehender Spruch, den ich mal aufgeschnappt habe

Also ich wollte dich mit dem kleinen Rätsel darauf aufmerksam machen, dass es ja einen Beobachter gibt, der all das erlebt, was in deinem Leben geschieht. Ein gutes Wort dafür finde ich Zeuge. Der Zeuge ist immer der gleiche, dein Leben lang. Er schaut zu den Augenhöhlen deines Körpers in die Welt hinaus und lauscht durch deine Ohren den Tönen der Welt. Wer ist das? Na das bist du. Das ist sehr profan, gell? Aber was bedeutet es, dass es dir offensichtlich nicht bewusst war? So gut wie keiner kann diese simple Frage beantworten, aber das ist einfach das Allerwesentlichste, dieser Zeuge. Wäre er nicht da, dann wärst auch du nicht da. Dann gäbe es überhaupt nichts für dich. Das Selbst ist nicht deshalb so schwer zu finden, weil es etwas ganz Geheimes, total Fremdes ist, was man durch tausend Studien erst erlernen muss. Es ist deshalb so schwer zu finden, weil es dir auf die Nase gebunden ist. Es ist so grundlegend, dass du niemals darüber nachgedacht hast. Es ist nur dadurch verschleiert, dass es selbstverständlicher ist als alles andere. Nun kannst du fragen, ja und? Es ist da, genügt das denn nicht? Es genügt nicht, denn in diesem Zustand ist das Selbst nichts weiter als ein stummer Zeuge. Völlig unbeweglich sitzt es da herum, als wäre es in einen Kinosessel gebunden und schaut einen Film nach dem anderen. Und das Programm macht irgendwer. Mal gibt es Liebesfilm, dann wieder Horror. Es weiß nicht einmal, dass es in einen Kinofilm gefesselt ist, es schaut ja nicht hin. Es muss sich selbst wahrnehmen, muss sich seiner selbst bewusst werden, du musst es anschauen. Dann erkennt es seine Situation, kann die Fesseln am Kinositz lösen und das Kino verlassen (im übertragenen Sinne) Dieses ganze Szenario mit dem Kino soll ein Vergleich mit der Identifikation sein.

In manchen Überlieferungen aus östlichen Schulen findet man die Frage: "WER ist es denn, der schaut?" "WER ist es denn, der geht, isst, liebt"? Es ist der Zeuge, das bist du, das ist das Selbst. Wenn du in Selbsterinnerung bist, entsteht eine Wahrnehmung, die man so beschreiben könnte: "Ach, ich hier? Wie merkwürdig. An was erinnert mich das bloß?" Passiert häufig in ungewohnten Situationen, im Urlaub am Meer oder so. Dann steht man da, schaut aufs Meer hinaus und irgendwie ist das alles so vertraut und doch voller Sehnsucht. Bei mir ist es sehr stark, wenn ich fliegenden Vögeln (nicht vögelnden Fliegen!) nachschaue. Auf einmal ist alles gut. Das ist Selbsterinnerung. Dann, ein paar Augenblicke später, fängt man an, über etwas nachzudenken und es ist vorbei. Bestimmt hast du auch solche Augenblicke, in anderen Situationen vielleicht.


Alle östliche Psychologie hat nur das eine Ziel, aufzuzeigen, wie man im Selbst bleiben kann, wodurch das gestört wird und was getan werden kann, um diese Augenblicke immer mehr werden zu lassen - Meditation ist sicher das beste Beispiel. Wir hier in Europa und auch die in Asien zunehmend leben in einer Atmosphäre der Reize, der Unruhe. Das alles macht es sehr schwer, das Selbst zu entdecken und es gegen all diese Reize zu verteidigen. Die Menschen sterben ab. Nicht im Selbst sein ist tot sein. Die Qualitäten, die nur aus dem Selbst kommen, verschwinden. Alles dreht sich nur um die Reize, das Geld, ums Haben. Die Kinofilme (mein Beispiel) werden immer härter, immer schriller, fesselnder. Das Selbst starrt darauf, nicht einmal seinen Kopf kann es wenden, um wegzuschauen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet leben wir in einer wirklich schlimmen Zeit. Man kann tausend Gründe für Depressionen finden oder einen ganz einfachen: Das ist ist der Aufschrei des ungesehenen Selbst.

Herzliche Grüße nach HH!

Thomas
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Guitaranderl »

also geht es um Ablenkung...!?
tomroerich
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von tomroerich »

Habs gerade noch mal etwas geändert.

Es geht insofern um Ablenkung, als wir vom Selbst abelenkt sind, ja. Das Gegenmittel ist Konzentration.
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Guitaranderl

Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Guitaranderl »

und Entsagung; Verzicht!

danke für Deine Mühe, Hirsch, so betrachtet, kann ich Dir leichter folgen und es wird praktischer für mich.

Mach´s gut
Andreas
Clown
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Clown »

Hallo Ben,

danke für deine Antwort, sie bringt mich weiter.

Grüße,
Clown
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chrigu
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von chrigu »

Hallo zusammen,

nachdem ich ein paar Tage nicht online war, werde ich gleich noch mal ganz in Ruhe (und ganz bei mir) Eure Beiträge lesen.

Auf eines möchte ich aber ganz kurz eingehen, weil es mich sofort "angesprungen" hat:

Liebe Brittka,
dieses aus-sich-heraustreten habe ich auch schon erlebt.
Merkwürdigerweise hatte ich aber vergessen, dass es mir manchmal wie von Dir beschrieben passiert und auch die gleichen Gefühle nach sich zieht: "Es war als ob ich aus dem Gefühls-Strudel, der mich ansonsten in die Tiefe zieht, bewusst herausgetreten wäre. Der Studel war zunächst trotzdem da, ich habe ihn wahrgenommen, aber er hatte nicht mehr die Macht, mich hinabzuziehen. Und mit der Zeit löste er sich auf."

Kannst Du diesen Zustand bewusst herbeiführen oder ist das etwas, das einfach mit Dir geschieht, so als wäre alles im Fluss? Vielleicht ist das eine wichtige Frage, weil sie eine Möglichkeit zum Loslassen von als negativ erlebten Gefühlen bietet.

Viele Grüße
Chrigu
Emely
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Emely »

Hallo Andreas,

meine Antwort bezog sich nicht nur auf die Frage, die Thomas Dir an seinem Rätsel-Tag gestellt hatte, sondern auch auf die, die er mir implizit und explizit am selben Tag gestellt hatte:

"Franz von Assisi drückte es so aus:
Was du suchst ist das, was sucht.
Verstehst du das?"

Da die Antwort auf die Fragen dieselbe war, hab ich geantwortet: "Die Antwort ist immer dieselbe: das Selbst."

Für mich ist durch die vielen Beiträge deutlicher geworden, dass das Selbst ganz und gar nichts Abstraktes ist. Besonders Brittkas Bericht hat mich sehr angesprochen.

Wenn ich meinem Selbst immer öfter nah bin, "einen Zipfel" erwische, dann hilft mir das im Alltag, im täglichen Leben. Das ist nichts Abgehobenes. Das ist es, was mir wichtig ist. - Und das war es ja auch, warum ich zum ersten Mal hier geschrieben habe. Eben wegen Deiner Frage, ob es hilfreich sei, sich mit dem Selbst zu befassen.

Viele Grüße

Emely
Clown
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Clown »

Hallo lieber Erklärbär,

«Dann steht man da, schaut aufs Meer hinaus und irgendwie ist das alles so vertraut und doch voller Sehnsucht. Bei mir ist es sehr stark, wenn ich fliegenden Vögeln ( .... ) nachschaue.»

Mir geht es so, wenn ich auf Wattenmeer, Salzwiesen und die Marsch schaue. Das macht für mich den Übergang vom Seelischen (Wasser) in die Materie (Marsch) sichtbar - finde ich faszinierend. Ist wie ein Spiegelbild für Inneres. Und ich habe ein Gefühl wie zu Hause sein. Dann noch ziehende Wildgänse ....

LG an alle
Clown
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Liber
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Liber »

Liebe Chrigu

danke für deine Rückmeldung!

Du fragst:

>Kannst Du diesen Zustand bewusst herbeiführen oder ist das etwas, das einfach mit Dir geschieht, so als wäre alles im Fluss? Vielleicht ist das eine wichtige Frage, weil sie eine Möglichkeit zum Loslassen von als negativ erlebten Gefühlen bietet.<

Nein, das geschieht bei mir nicht von selbst. Wenn es früher mal geschah, dann nur in ganz seltenen Momenten, als "Geschenk".

Das andere, das Identifizieren mit den Gedanken und Gefühlen, das geschieht bei mir von selbst und automatisch. In diesem Zustand war ich viele Jahre lang andauernd.

Ich habe - ausgelöst nicht nur, aber auch durch diesen Thread - eine Ahnung davon bekommen, was das Selbst sein könnte. Und dass es eine Möglichkeit gibt, sich an das Selbst zu "erinnern", wie Thomas es nennt.

Und nachdem ich es versucht habe und mich von außerhalb beobachtet habe - die Erfahrung das erste Mal gemacht habe, dass dies möglich ist - weiß ich: es gibt mein Selbst. Noch häufig versteckt und gefesselt - aber es gibt es. Und jetzt ist es eine Sache der Konzentration, mich an es zu erinnern.

Bei mir ist es im Moment so, dass ich mich sofort und automatisch mit den Gedanken und Gefühlen identifiziere, von ihnen davongetragen werde, wenn ich "nichts" mache, wenn ich mich nicht bewusst aus diesem Strom herausstelle.

Es geht bisher nicht "von selbst". Leider !

Aber wenn es mir gelingt, mich an mein Selbst zu erinnern, dann fühle ich mich gleich irgendwie leichter und innerlich offener. Als ob ein Druck in der Brust, den ich vorher schon gar nicht mehr bemerkt hatte, so selbstverständlich war er, kurzzeitig verschwindet.

Diese Erfahrungen sind noch ganz jung und zart wie eine Knospe. Ich würde sehr gern noch von Euren Erfahrungen dazu hören!

Liebe Grüße

Brittka
Liber
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Liber »

Hallo Thomas,

du hast vor kurzem einen kleinen Einschub für religiös Interssierte gemacht. Da gehöre ich dazu.

Ich konnte viele Jahre nichts mit der Bibel anfangen - habe immer wieder mal versucht, zu begreifen, was da eigentlich steht, es ist mir aber nicht gelungen. Jetzt allmählich beginnen sich mir manche Wahrheiten zu entschlüsseln.

"Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen" (der Name!)

"Den Kindern gehört das Himmelreich" -

die Blinden, die sehend wurden usw.

Der "Herr" als das Selbst? Das hat mich überrascht! Ich konnte mit dem Begriff "Herr" bisher nie etwas anfangen, habe ihn sogar abgelehnt.

So, damit mal genug. Ist sonst vielleicht ein bisschen zu speziell für das Forum hier .


Lieben Gruß
Brittka
tomroerich
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von tomroerich »

Liebes Dorle,

Ganz genau DAS passiert bei mir ständig! Ich hätte es nicht so in Worte fassen können, aber nach einem „Ereignis“, das auf einer anderen Ebene war, schaltet sich sofort eine Instanz dazwischen, die das Geschehene zu Tode kommentiert.
Es ist wie wenn man eine Seifenblase einfangen will: sie geht kaputt, und aus etwas Wunderbaren wird eine Pfütze Seifenwasser.

Solange du noch nicht wirklich gut weißt, wie du in dein Selbst gelangen kannst, reichen häufig schon kleine Reize von außen oder innen, um die Seifenblase platzen zu lassen. Andererseits wächst es mit jeder Minute, die du mit ihm verbringst und wird immer stärker. Ob eine Situation dich dazu bringen kann, aus dem Selbst auszusteigen, hängt sehr davon ab, was auf dich wirkt, was dich packen kann. Wenn du es in diesen Situation schaffen kannst, bei dir zu bleiben, gewinnst du sehr viel (hoher Trainingseffekt). Wenn sofort die Gedankenmühle anfängt zu mahlen - versuch einfach, dich nicht in den Gedanken zu verlieren und wehre dich auch nicht gegen sie. Sie ziehen wirklich vorbei wie Wolken, wenn du sie einfach ziehen lässt. Aber wenn du dich über sie ärgerst, haben sie dich. Es ist sehr schwer, Gedanken anzuhalten und es erfordert sehr viel Konzentration. Deshalb ist es besser, sie ziehen zu lassen.

Die Frage ist immer, wo deine Aufmerksamkeit ist. Entziehst du den Gedanken deine Aufmerksamkeit, werden sie zu Wolken und du bist frei, die Aufmerksamkeit auf dich selbst zu richten. Es kann helfen, die Aufmerksamkeit auf etwas Unbedeutendes zu richten, einen Bleistift oder so. Das konzentriert deinen Geist auf etwas anderes und wenn du konzentriert bist, wechsele einfach wieder zu dir selbst indem du dir darüber bewusst wirst, wie du einen Bleistift anschaust. Man muss sich immer wieder klar machen, dass all das, was einen bedrängt, nur von der Aufmerksamkeit leben kann, die man dem schenkt. Zieht man sie ab (was schwierig sein kann, ja) werden diese Dinge zu Hintergrundrauschen oder verschwinden ganz. Seine Aufmerksamkeit von etwas abziehen heißt ganz automatisch, dass man sich seiner selbst bewusst ist, dass man sich sieht, wie man etwas sieht. Sonst ginge es nicht. Wenn du ganz in Gedanken bist, kannst du dich selbst nicht mehr sehen, nur noch deine Gedanken. Dann mag ein Augenblick kommen, da wirst du dir darüber bewusst, dass du gerade nachdenkst. Das ist ein Schimmer von Selbsterinnerung. Du siehst dich selbst, wie du nachdenkst. Mehr oder weniger deutlich. Und um deine Aufmerksamkeit von dort abzuziehen, brauchst du mehr Selbsterinnerung. Dann musst du dich ja daran erinern, dass du dich eigentlich nicht in Gedanken verlieren wolltest - das erfordert eine Anstrengung. Es ist so ähnlich wie aus dem Schlaf zu erwachen, wenn man im Halbschlaf zu begreifen beginnt, dass es Zeit zum Aufstehen ist.

Ich habe ausprobiert, an was vom Tag ich mich heute Abend noch erinnern kann. Es waren immer die stillen Momente, in denen ich etwas beobachtet habe, eine Aussicht aus dem Zugfenster, das Gesicht eines Menschen, und da waren – wie soll ich sagen – ja, da sind keine Sätze, einzelne Worte ja, Tonfälle ja, Gefühle ja, aber keine ganzen Sätze, weder von mir noch von anderen. Dabei fällt mir auf, dass ich mich gar nicht „sehe“.

Ich kann nicht aus mir heraus oder neben mich treten, wie Ihr es hier geschildert habt. Meint Ihr das im übertragenen Sinne oder „seht“ Ihr Euch wirklich wie von außen?

Also, man sieht sich nicht von außen. Nicht, als wenn du dich im Spiegel sehen würdest. Es ist die Wahrnehmung "jetzt denke ich" "jetzt fühle ich dies oder das". Es ist aber kein Nachdenken darüber sondern nur die reine Wahrnehmung. Du kannst versuchen, mal deinen Körper mit deinem Bewusstsein abzutasten. Lass es von den Zehen bis zum Kopf wandern. Man soll dabei nichts Besonderes fühlen sondern die Körperteile nur wahrnehmen, dass sie da sind. Denke also nicht, "Das ist mein Fuß", sonst bist du sofort wieder mit deinen Gedanken beschäftigt. Es ist nur ein stilles Herumwandern im Körper. Das kann dir einen Geschmack davon geben, was gemeint ist, denn mit dem Körper ist es einfacher als mit den Gedanken und Gefühlen. Letztere fangen dich sehr leicht ein. Zu Anfang ist das langweilig und irgendwie nicht sehr attraktiv, zumal es oft misslingen kann. Aber mit der Zeit wirst du Freude daran haben, deinen Körper von innen her zu untersuchen. Ich kann inzwischen einzelne Zähne wahrnehmen (auch dann, wenn sie nicht weh tun ) oder Fingernägel, mein Ohrläppchen. Dadurch erlangst du die Fähigkeit zur Konzentration und dein Geist wird immer schärfer und punktgenauer. Schließlich wird es dir auch leicht gelingen, deine Gedanken anzuschauen. Ich meditiere allerdings auch seit Jahren täglich eine halbe Stunde, das bewirkt auch sehr viel.

Dein Rückwärtserinnern ist, wie soll ich sagen, sehr typisch. In hektischen Augenblicken sind wir nicht da, da hat uns der Stress am Wickel. Wenn du dich mal an so etwas erinnern kannst, weil du es im wachen Zustand erlebt hast, wirst du entsetzt sein, was für Gefühle du da hattest. Das Selbst nimmt diese Dinge auf seine Weise wahr. Ihm sind Gefühle, Töne etc. wichtiger als Worte. Denn was es sehen will, sieht es in den Gefühlen veilleicht ehr als in den Worten, die fielen. Das ist die entscheidende Information für die Situation, in der du warst. Wenn du Gefühle erinnern kannst, warst du schon ziemlich wach. Allerdings heißt das nicht, dass nicht trotzdem in jeder Sitaution auch deine Gefühle gespeichert werden, auch wenn du dich nicht erinnerst. Nur werden sie dann zu einem Automatismus.

Es ist, als hätte ich, wann immer ich „wach“ bin, eine Stimme im Kopf, die fast nie still ist, so wie ein sprechender Spiegel, der mir mein Leben erzählt. Er hat eine Meinung zu allem, was je passiert ist, was je passieren könnte, und er erzählt mir und wertet alles, was aktuell passiert. Er redet es kaputt, als wenn er sterben müsste, wenn er schweigt. Ist das dieses „Über-ich“ von dem Ihr geschrieben habt?

Ich glaube, das ist ein innerer Kamerad, der da zu dir spricht. Hast du viel Einsamkeit in deiner Kindheit erlebt, warst du ungeborgen und viel allein? Bei mir war es so und ich machte es mir zu Gewohnheit, mit mir selbst zu sprechen, weil man jemanden braucht, mit dem man sprechen kann. Das kann auch einfach in Gedanken sein. Dadurch hatte ich jemanden, der zu mir sprach und mir alles erklärte. Wie eine Puppe oder ein Kuscheltier ja auch so eine Funktion haben kann. Ja, er redet alles kaputt, weil er zwischen dich selbst und das leben tritt. Es ein Leben aus zweiter Hand sozusagen. Weil du mit diesem Spiegel identifiziert bist, ist es glaube ich deine Angst, sterben zu müssen, wenn die Stimme aufhört. Wen hättest du dann noch? Aber das ist eine Interpretation aus der Ferne, eine Idee.

Ein Gruß zur Nacht von

Thomas
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von tomroerich »

Hallo Brittka,

mir ging das auch so. Interessiert hat mich Religion, Psycholgie und Philosophie schon immer. Aber ich lese heute ganz anders und manche Sätze hinterlassen nun einen tiefen Eindruck auf mich, die mir vorher ganz unverständlich waren. Das bedeutet, dass das innere Wissen um die eigene Seele zugenommen hat. Man kam dem Selbst ein Stück näher. Deine Zitate - du verstehst anscheinend den Zusammenhang. Aber ich denke auch, dass man dieses Fass "Religion" jetzt nicht aufmachen sollte.

Lieben Gruß auch von mir

Thomas
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Guitaranderl

Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von Guitaranderl »

Hi Thomas und Others,

wenn möglich, möchte ich noch einmal direkt an Eurem Erfahrungschatz teilhaben und auch "Ideen" hören. Ich schreibe es offen, weil ich bestimmt nicht der Einzige bin, dem das so gehen dürfte.
Gestern abend fuhr ich nach dem Sport nach Hause, dachte über die letzten 25 Jahre nach und wurde sehr traurig. Nach meinem Gefühl ist damals etwas sehr Grundlegendes schief gelaufen; vielleicht eine falsche Weichenstellung... *)
Auf jeden Fall habe ich seit dieser Zeit mit erheblichen Angstproblemen zu tun, mit denen ich mich teils arrangiert habe. Ängste - zumindest die sog "irrationalen"- sind ja negative Gefühle erster Klasse. Irrationale Angst verhindert unglaublich viel Gutes; vielleicht sogar das Selbst, wie es hier beschrieben wurde.
Ist es möglich, dass diese Ängste nicht nur das "Selbstwerden" verhindern, sondern dass diese Ängste ihrem Träger sogar irgendwann ein "Ersatzselbst" vorgaukeln?
(Also HABE ich dann nicht nur Angst, ich BIN vielmehr meine Angst).

Ich denke, die Art einer psych. Störung ist letztlich vielleicht sogar nachrangig, wenn es darum geht, eine bestimmte Funktionalität zu erreichen; hier nämlich der Schaffung einer Ersatzidentität oder dem Ausweichen vor der wirklichen Identität. Vor längerem schrieb ich in diesem Zusammenhang schon einmal die Abwandlung "Ich fühl mich scheiße, also BIN ich".

Gestern sag ich auf 3SAT "Bilder aus der Provence" und mich, der im Reisen ganz schlecht ist, ergriff großes Fernweh.

Herzlich aus Hamburg, zipfelsuchend
Andreas

*) glaubt Ihr daran, dass wir im Leben eine gewisse "Bestimmung" haben, deren Missachtung ein "verratenes Selbst" zur Folge haben kann? Etwas, was leicht passiert, wenn wir die Wünsche und Bedürfnisse unserer Eltern, Partner oder sonstigen Bezugspersonen höher gewichten als unsere Eigenen..
tomroerich
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Re: Verletzte Gefühle überwinden II

Beitrag von tomroerich »

Lieber Andreas,

hmmm, das berührt mich jetzt schon sehr, was du schreibst. Da wird so deutlich, wie schrecklich es ist, in sich gefangen zu sein.

Was du mit der Ersatzindentität schreibst, trifft es m.E. zu 100%. Man nennt sie auch einfach das Ego. Manchmal wird es auch die falsche Persönlichkeit" genannt. Und seine Macht besteht genau darin so zu tun, als sei es das wahre Selbst. Deshalb wird praktisch jeder Mensch wütend oder verletzt, wenn man sein Ego angreift. Einer, der im Selbst ist, kann nicht verletzt werden.** Aber nicht nur psychisch angeknackste Menschen haben es, jeder hat es. Es bildet sich aus den Einflüssen der uns umgebenden Welt, deren Eigenschaft es ist, uns so zu beeindrucken, dass wir sie für die einzige Realität halten. Nur ist es so, dass diejenigen, die unter ihrer falschen Identität leiden, ja nach der richtigen suchen, weil sie unglücklich mit ihrem Ego sind. Diejenigen, die gerne und angenehm mit ihrer Scheinidentität leben, werden niemals die Mühen auf sich nehmen, die es bedeutet, die Macht der falschen Identität zu brechen. Sein Selbst zu finden bedeutet viel viel mehr, als man sich vorstellen kann. Wüsste man es, man würde einfach alles dafür tun, um es zu bekommen.

Angst ist ganz sicher eine der schlimmsten Feinde der Seele, ein neg. Gefühl erster Klasse, wie du es sagst. Wie kaum ein anderes Gefühl lähmt sie das leben. Wer unter furchtbaren Wutausbrüchen leidet, hat wenigstens das Gefühl der Befreiung. Aber Angst ist nur fies.

Obwohl ich selbst vorgeschlagen habe, das "Fass Religion" nicht aufzumachen, kann ich doch der Versuchung nicht widerstehen Ich tue es deshalb, weil dadurch vielleicht deutlich wird, dass das Problem Ego/Selbst seit Jahrtausenden bekannt ist und dass es das zentrale Thema jeder Weltreligion ist, weil dies das zentrale Thema des Lebens ist.
Ich bin kein bekennender Kichenchrist und habe mit dieser Kirche auch wirklich nichts am Hut, aber ich schätze die Weisheit des Christentums sehr. Es heißt dort "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, bevor ein Reicher in den Himmel kommt" und andererseits zum Schächer zur linken am Kreuz: "Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein". Warum diese unerhörte Ungleichbehandlung des braven (in gesellschaftlichen Augen) Reichen und des Schächers, der Schuld auf sich geladen hat? Weil es um Moral nicht geht. Der Reiche erfreut sich seines Ego und findet so seine Identität nicht. Der Mörder leidet an sich selbst. Er bereut, was nichts anderes heißt als "Sich selbst sehen", und er muss seine Scheinidentität hassen. So erklärt sich auch, warum dieser Mensch Jesus sich unter die Verachteten mischte - dort konnte seine Lehre aufgenommen werden, während die Oberschicht in Selbstgefälligkeit (die eigentlich Egogefälligkeit heißen müsste)dahinschwelgt und ihn nur als Bedrohung ihres Ego sehen konnte.
Man muss auch das mit dem Himmel im herkömmlichen Sinne vergessen, es ist immer von inneren Dingen die Rede. Vom inneren Himmel. Es hat keinen Sinn, sich eine Vorstellung machen zu wollen, was das heißt. Sie wäre auf jeden Fall falsch und hinderlich.

glaubt Ihr daran, dass wir im Leben eine gewisse "Bestimmung" haben, deren Missachtung ein "verratenes Selbst" zur Folge haben kann? Etwas, was leicht passiert, wenn wir die Wünsche und Bedürfnisse unserer Eltern, Partner oder sonstigen Bezugspersonen höher gewichten als unsere Eigenen..

Das Selbst ist die Bestimmung und seine Missachtung geschieht ohne dein Zutun. Es sind einfach die Einflüsse der Welt, die es verraten. Sie nehmen den Platz des Selbst ein. Wenn man lernt, in seinem Selbst zu sein, wird man das deutlich erkennen können. Aber solange es nur das Ego gibt, ist es unmöglich, das zu sehen. Wer im Berg steckt, kann den Berg nicht sehen. Oder siehe auch Platons Höhlengleichnis.

DaS war jetzt vielleicht wieder etwas viel Theorie, aber du bekommst auch gerne alle meine Erfahrungen. Nur weiß ich nicht so recht, wo anfangen

Dir einen herzlichen Gruß

Thomas

** Das Beispiel mit der hingehaltenen Wange, wenn dir einer draufschlägt soll die Unverletzlichkeit des Selbst illustrieren. Das ist eine der Deutungen. Praktisch alle Aussprüche haben mehrere Deutungen, die parallel bestehen. Es ist typisch für die heute praktizierte Religionsdeutung, dass der Kern, nämlich die Entwicklung des Selbst, nicht vermittelt wird. Das wird für Egoismus gehalten. Man verlegt sich darauf, einen unendlich weit entfernten Gott zu propagieren, der Macht über die Menschen ausübt oder es eben unterlässt.
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