Die Falle der Vergebung

imagine
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von imagine »

Liebe Emriye,
das ist doch schon ein Schritt und wenn es dir genügt, umso besser.
Ich denke, für jeden gibt es möglicherweise eine andere Lösung.
Vielleicht ist manchmal ein völliges Abkapseln wirklich die bessere Alternative und es mag ja auch durchaus sein, dass die Bitte um Vergebung auf lange Sicht eben doch gewirkt hat...
Dir alles Liebe
imagine
Schweigen ist die unerträglichste Art der Erwiderung (Chesterton)
Emriye2
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Emriye2 »

tomroerich
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von tomroerich »

Liebe Emriye,

auch Maggy hat das mit dem "Auflösen" schon moniert und ihr habt da ganz klar Recht - ich habe es nicht deutlich ausgedrückt. Mir ging es ums Lösen, ums Ablösen, nicht um das Auslöschen, das geht nicht und es ist vor allem auch nicht notwendig.

Was geändert werden muss und auch geändert werden kann ist die eigene Beziehung zur Vergangenheit Ich habe auch nicht gesagt, dass das leicht sei, ich habe mich selbst äußerst schwer damit getan. Vielleicht nimmst du es zu sehr als Aufforderung zu einer Leistung, wenn ich das so sage? Schau, ich weiß ja, dass du wirklich sehr belastet bist durch deine Vergangenheit und dass man mit dir umging wie man mit einem ungeliebten Hund nicht umgehen würde. Warum sagst du, dass es Dinge gibt, die man nicht verzeihen kann, wenn es doch nur darum geht, dass du dich davon befreist? Damit sagst du nur, dass du dich nicht befreien kannst und da haben wir das Problem. Wenn du nicht verzeihen willst, heißt das, dass du nicht loslassen willst und dann kannst du nicht frei werden. Wenn du es jetzt nicht kannst, weil es zu früh ist und du trauerst oder wütend bist, dann ist das etwas anderes. Dann ist es eben zu früh. Diese Stationen der Trauer und Wut muss man auch gehen, wenn sie auftauchen (bei mir kam nie Wut, aber das liegt halt an mir) aber die Endstation ist die Vergebung.

Vergebung wäre auch, nur zu sagen: "Ich habe nichts mehr mit euch zu tun. Geht ihr euren Weg und ich gehe meinen und wir sind geschiedene Leute." Auch und vor allem im Herzen. Das reicht. Es ist kein warmes Gefühl nötig, keine Wiederherrstellung einer Beziehung, die es vielleicht nie gab. Wenn nichts Gutes drinsteckt, dann eben nicht. Es geht nur um dich. Ich wünsche dir nur Freiheit und Glück, ich spreche nicht davon, dass du dich durch dein Vergeben in irgendeiner Weise deinen Quälgeistern verpflichten sollst, im Gegenteil.

Ich stimme in Allem überein, was die Barbara Rogers da sagt. Aber sie benutzt "Vergebung" in einem anderen Sinn. Das ist gar nicht Vergebung, wovon sie spricht. Es ist Vergebung auf dem Hintergrund der Schuldfrage, was sie meint. Wenn ich sagen würde "Liebe Mutter, ich vergebe dir, weil ich dich ja so lieb habe" dann ist es eine Falle, eine sehr schlimme Falle! Dann tue ich ja wiederum das, was ich schon als Kind tat - mich wegen meiner bedingungslosen Liebe selbst zu verleugnen. Wenn ich aber sage "Mutter, ich vergebe dir, denn ich habe dich überwunden" ist es etwas völlig anderes. Hier spielt die Schuldfrage einfach keine Rolle mehr. Es wird einfach nur noch gesehen, was ist und was war, aber man hört auf, es zu bewerten. Es kann keine objektiven Kriterien dafür gebe, wann jemand schuldhaft handelt. Schuld ist immer eine Beziehungsfrage. Ich tue dem anderen ein Leid und es ist sein Leid, das Schuld entstehen lässt. Wenn der andere sein Leid aufgibt, wird die Frage der Schuld einfach müßig. Gibt er es nicht auf, geht es ihm schlecht und dass er dem anderen grollt, hilft nichts. Dann geht es höchstens beiden schlecht. Aber dass so ein Prozess Zeit braucht, das ist klar. Nur Wollen muss man ihn schon, wenn man sich selbst so viel wert ist, einmal ein freier Mensch zu sein.


Einen lieben Gruß von

Thomas
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maggy
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von maggy »

Ja Thomas,

das mit dem Ablösen ist für mich nachvollziehbar, aber auch das ist nur möglich wenn ich vorher etwas wirklich festgehalten habe, bzw., wenn mir mein Festhalten daran bewußt ist.

So wie viele immer vom LOSLASSEN reden, ohne das, was sie loslassen wollen, vorher als wirklich zu sich gehörend angenommen haben; denn auch hier habe ich erlebt und wurde mir bewußt:

Was mir nicht gehört, kann ich nicht loslassen .

Alles Liebe
von
Maggy
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Depression ist die Fähigkeit mit tiefster Gefühlsbereitschaft auf Konflikte zu reagieren
Emriye2
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Emriye2 »

Lieber Thomas,

ich glaube ich verstehe unter dem Begriff Vergebung immer etwas falsches. Ich fühle mich in der Tat aufgefordert, zu vergeben und somit diese Leute in mein Herz zu lassen. Ich fühle mich aufgefordert mich mit diesen Menschen emotional zu verbinden, wo es nichts zu verbinden gibt.

Deine Worte: "Vergebung wäre auch, nur zu sagen: "Ich habe nichts mehr mit euch zu tun. Geht ihr euren Weg und ich gehe meinen und wir sind geschiedene Leute." Auch und vor allem im Herzen. Das reicht. Es ist kein warmes Gefühl nötig, keine Wiederherrstellung einer Beziehung, die es vielleicht nie gab. Wenn nichts Gutes drinsteckt, dann eben nicht. Es geht nur um dich. Ich wünsche dir nur Freiheit und Glück, ich spreche nicht davon, dass du dich durch dein Vergeben in irgendeiner Weise deinen Quälgeistern verpflichten sollst, im Gegenteil."

Davon rede ich eigentlich die ganze Zeit, das ist das was ich meine. Das ist das was ich vollstens unterstreichen kann. Mich hat es nur ein bißchen wütend gemacht, das ich das Gefühl hatte, von mir wird gefordert - verzeih, diesen Menschen, dann erst kannst du gesund werden - .

Aber das was du beschrieben hast, diesen Weg geh ich schon ein paar Jahre. Und ich weiß, dass ich da schon einiges bewältigt habe. Meine Vergangenheit als Stück von mir zu integrieren und was mir sehr schwer fällt, wo ich immer wieder an meine Grenzen stoße - mir zu verzeihen, aber auch da bin ich auf dem Weg. Mich nicht für alles was passiert verantwortlich zu fühlen.

Und mich nicht als absolute Versagerin zu sehen, dass meine Depression immer noch jeden Herbst kommt....dafür sehe ich mich auch ein bißchen als Versagerin, weil ich denke, mit dem therapeutischen, ärztlichen, familiären(meine eigene kleine Familie) und freundschaftlichen Background dürfte ich garnicht mehr Depressionen bekommen.

Dir herzlichen Dank und liebe Grüße
emriye
Emriye2
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Emriye2 »

Lisa23

Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Lisa23 »

Hallo Thomas,

Vergebung wäre auch zu sagen, ich habe nichts mehr mit euch zu tun usw....... - dieser Form der Vergebung kann auch ich mich anschließen, wenn es denn eine ist.

Dass dies jedenfalls für mich, der bessere Weg ist, das habe ich schon 1993 in meiner ersten Reha durch meinen damaligen Arzt und Therapeuten angeraten bekommen. Mittlerweile bin ich ambulant bei meiner 4. Therapeutin. War noch 2 Mal zur Reha und in 2 Kliniken. Überall wurde auch über das Thema Eltern und Kindheit gesprochen. Nicht einer der ÄrztInnen oder TherapeutInnen haben mir geraten, meinen Eltern zu vergeben. Mir wurde immer nahegelegt, den Kontakt zu beiden Elternteilen zu meiden so gut es geht, wenn möglich abzubrechen.

Als Erwachsener hat man die Möglichkeit, sich aus den Fängen der Eltern zu befreien. Die Welt ist zwar durch Telefon, Auto usw kleiner geworden, viele Eltern fordern es auch geradezu ein, angerufen und besucht zu werden. Ob wir es tun, das liegt an uns.

An uns und an unseren unangebrachten, antrainierten Schuldgefühlen. Überkommen uns solche Schuldgefühle, dackeln wir nach Hause, dahin wo gar kein Zuhause ist, nie eins war, mimen das liebe, brave Kind, passen auf, was wir sagen, sagen lieber nichts, als ein Wort zuviel und gehen mit einer Menge Frust wieder zurück in unsere eigenen 4 Wände. Dort dauert es dann wieder Tage und Wochen, bis wir so richtig bei uns sind um wieder loszuziehen um uns eins überbraten zu lassen.

Das habe ich alles auch viele Jahre getan. 1993 war ich 40. Ich denke, ein Alter, wo man wissen sollte, wo man persönlich steht im Leben. Was bis dahin nicht gut war, kann nicht mehr werden. So sehe ich es jedenfalls. Die Beziehung zu meinen Eltern war von Kindesbeinen an gestört. Sie haben es nie versucht, etwas daran zu ändern.

Es blieb mir ja gar nichts anderes übrig, als endlich die Situation zu ändern.

Meine Entscheidung ist richtig. Es ist ja schon schlimm genug, solche Eltern gehabt zu haben, jetzt soll ich auch noch damit belastet werden, nie meinen Seelenfrieden zu finden? Das glaube ich nicht. Je länger ich nichts von den Beiden höre, desto besser geht es mir. Sie fehlen mir nicht. Ich hätte schon als Kind auf sie verzichten können, sollen, müssen.

OK, jeder muss das für sich regeln.

Liebe Grüße, Lisa
Emriye2
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Emriye2 »

tomroerich
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von tomroerich »

Liebe Maggy,



So wie viele immer vom LOSLASSEN reden, ohne das, was sie loslassen wollen, vorher als wirklich zu sich gehörend angenommen haben; denn auch hier habe ich erlebt und wurde mir bewußt:

Was mir nicht gehört, kann ich nicht loslassen .

Ich weiß, was du meinst. Und so geschieht ja Entwicklung. a) Verwicklung b)Entwicklung (Loslassen) Man geht durch diese Dinge durch, nimmt sie an und wächst über sie hinaus.

Werdet Durchquerende! (Thomas-Evangelium)
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tomroerich
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von tomroerich »

Hallo Reinhard,

ich finde deine Worte sehr beeindruckend, auch was die 'Vererbung'(wenn ich es richtig interpretiere) postiver oder negative Verhaltensmuster von einer Generation auf die andere angeht...

Ja, das ist ohne Zweifel ein ganz wichtiger Punkt bei all diesen Überlegungen. Wir sollten uns bei allen Beurteilungen uns naher Menschen immer auch fragen, ob sie denn auch hätten lassen können, was sie getan haben. Prägungen haben eine gewaltige Macht. Im Grunde muss man zugestehen, dass sie den prinzipiell möglichen, freien Willen, den wir ja vorauszusetzen scheinen, wenn wir von Schuld sprechen, zu einer Makulatur machen. Der Ausspruch "Ich schlage meine Kinder, denn mir hat es auch nicht geschadet" zeigt, wir tragisch das Ganze ist und wie tief diese Erfahrungen in das Weltbild eines Menschen eindringen. Nur Bewusstheit und Auseinandersetzung mit sich selbst (beides ist das Gleiche) können daran etwas ändern.

Ich kann es versuchen, bei meinen Kindern besser zu machen, aber oft ertappe ich mich bei ähnlichen 'Fehlern', die ich wohl von den Eltern übernommen hatte, wenn ich z.B. aus lauter Angst und Fürsorge meiner Tochter Entscheidungen abnehme, die sie besser selbst hätte treffen sollen... Ich mache sie in dem Moment unselbständiger, entscheidungsunfreudiger, unsicherer, sich selbst nicht über 'den Weg trauend'


Ich habe und werde die Vergangenheit nicht vergessen, aber ich kann jetzt schon besser damit leben, weil ich mir sage, SIE hat es nicht BESSER gekonnt. Ich versuche für MICH, langsam, Stück für Stück nicht nur die negativ erlebten Dinge, sondern auch die positiven aus meinem Unterbewußsein hervorzuholen und zu verarbeiten. Manchmal gelingt mir dies auch schon.

Ja, da sagst du es ja auch. Es lag außerhalb ihrer Möglichkeiten, es anders zu machen. Woher beziehen wir denn die Maßstäbe dafür, was "richtig" und was "falsch" ist? Zu einem sehr großen Teil aus den Prägungen früher Jahre und diese werden umso schwerer wiegen, wenn wir selbst wieder einem Kind gegenüber stehen, das wir leiten sollen. Dann wird das, was wir als Kind selbst erfahren haben, das Muster dafür abgeben, wie wir handeln. Oder wir versuchen, diese Erfahrungen ins Gegenteil zu verkehren, um es nicht weiterzugeben, geben es aber durch diese Ängstlichkeit auch weiter.

Viele Grüße von

Thomas
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Lisa23

Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Lisa23 »

Hallo Emriye,

ich fand diesen Thread von Dir sehr gut, das Bild ist ein schöner Abschluß. Aber wer weiß, vielleicht wird der Thread doch wieder hervorgeholt, denn er ist sehr aktuell. Wir zehren ja alle von diesen Phasen, in denen es uns besser geht. Wenn uns dann noch etwas
gutes gelingt, dann sind solche Phasen immer ein Erfolg.

Ja und das Thema in diesem Thread, ist ein sehr trauriges Kapitel unseres Lebens. Wir dürfen nicht zulassen, dass es uns bis ans Ende unserer Tage verfolgt. Deshalb glaube ich, bin ich mit Alice Miller auf dem richtigen Weg. Vielleicht hatte ich auch einfach immer Glück, an Therapeuten und Ärzte zu geraten, die mir keine Schuldgefühle einimpften. Denn irgendwie haben sie mir alle bereits vor Jahren vermittelt, was ich jetzt bei Alice Miller nachlesen kann.

Sicher, ich war auch viele Jahre sehr traurig über das Verhältnis zu meinen Eltern. Aber was sollte ich tun? Sie wollen beide nicht sehen, was sie angerichtet haben. Bei meinem Vater war es ja MB. Er streitet alles ab. Er würde ja sein Gesicht verlieren. Da ist es doch besser, mich als Lügnerin hinzustellen und mich vor der ganzen Familie unmöglich zu machen.

Meine Mutter ist durch den Alkohol so sehr in ihrer Persönlichkeit verändert, das ist nicht mehr rückgängig zu machen. Sie ist nicht die, die sie sein könnte. Ihre Launen und Wutausbrüche haben mich bereits in der Kindheit und Jugend, zu einem Nervenbündel gemacht. Ich raste heute noch sehr schnell aus, wenn ich mich bedroht fühle. Das geht von einer Sekunde auf die andere.

Meine Eltern haben auch mich verändert. Ich konnte nie die werden, die ich hätte sein können. Deshalb, was soll denn noch alles geschehen? Um die Eltern geht es doch schon lange nicht mehr. Es geht um mein Leben, um meine Zukunft, die ja mittlerweile auch schon kürzer ist, als die Vergangenheit.

Ich weiß, dass ich ein kleines, liebes Mädchen war, leider hatte ich zwei teuflische Eltern. Zwei, denen nichts heilig war, ist.

Liebe Grüße, Lisa
tomroerich
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von tomroerich »

Hallo Imagine,

du hast ganz Recht damit, dass da jeder seinen eigenen Weg gehen muss. Du bist vielleicht ein sehr emotionaler Mensch und hast deshalb intensive Phasen von Trauer und Wut erlebt. Ich bin nicht so emotional - ich habe über meine Gedanken gearbeitet und habe trotzdem das Gleiche erreicht.

Vielleicht noch eine kleine Bemerkung zu den Zwängen: Ich habe alles anders gemacht in der Erziehung, aber dass ist bestimmt auch nicht der richtige Weg, denn er entsteht ja auch aus Zwang...

Das ist eine sehr wichtige Beobachtung, finde ich. Man denke nur an die Bewegung der "antiauthoritären Erziehung" als Gegenbewegung zu den preußischen Zügen der Erziehung, die ich als in den 50igern Geborener "genießen" durfte. Sie löste kein Problem, sondern schaffte nur neue. Es gibt keine Methoden, sondern nur lebendiges Mitfühlen mit dem Kind. Aber dazu muss man selbst weitgehend frei sein von den Mechanismen eigener Prägungen.

Liebe Grüße von

Thomas
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Emriye2
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Emriye2 »

Emriye2
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Emriye2 »

rm
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Re: Die Falle der Vergebung @ Emriye

Beitrag von rm »

Hallo und guten Morgen Emriye,

Es beeindruckt mich sehr, wie du kämpfst und Verantwortung für dich übernimmst! KEINER deiner Ärzte konnte anscheinend ermessen, auf welchem Holzweg sie sich befanden.

Und das ist das Tragische an vielen 'Lebens-/Überlebensgeschichten'(was bei dir Gott-sei-Dank noch gut gegangen ist): gerät man erstmal an die FALSCHEN Ärzte, bedarf es viel, viel Kraft (und den Glauben an sich selbst, vielleicht auch - für mich jedenfalls - den Glauben an eine höhere Macht ), sich aus deren VOR-VERURTEILUNGEN (!) zu befreien!!!

Dir ist es gelungen. Dafür bist du bestimmt dankbar und mit Sicherheit gestärkt daraus hervorgegangen! Das wünsche ich Dir jedenfalls, auch was deine Zukunft angeht.

Mir kommt die Galle hoch, wenn ich solche Dinge höre, die dir anscheinend in der Klinik widerfahren sind! In abgeschwächter Form habe ich Ähnliches erlebt und bin dabei beinahe im wahrsten Sinn des Wortes unter die Räder eines IC gekommen. Und KEINER der behandelnden Ärzte wäre belangt worden!!!!

Andererseits habe ich auch sehr GUTE Erfahrungen in einer Klinik machen dürfen... Hier hat man mich in meinen Sorgen und Nöten ernst genommen und ich bin Ärzten begegnet, die mit mir auf GLEICHER Augenhöhe ein Stück weit auf meinem Lebensweg gegangen sind....

Ich denke, dies alles ist KEIN Zufall, sondern sollte für mich so kommen... Es hat mich - im Nachhinein gesehen - wieder ein Stückchen weitergebracht und dafür bin ich dankbar.

Dir ein sonnenklares Wochenende!
LBG, Emma + Reinhart
Lisa23

Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Lisa23 »

Hallo Emriye

ich habe Deinen Bericht gelesen und bin erschüttert.

Das mit Deinem Vater war schon ziemlich hart,aber was Dir dann in der Klinik passiert ist, das ist ja Horror pur. Das in unserem Jahrhundert. Ein Menschenleben zählt nichts in unserer Gesellschaft. Das sage ich mir täglich und egal, ob die Peiniger die Eltern sind oder andere Personen, die durch irgendein Privileg Macht über uns haben und ausüben, wir sind immer in der schwächeren Position.

Wir müssen erst erkennen, warum das so ist, bevor wir handeln können. Die Täter haben immer einen Vorsprung und manchmal sogar die Legitimation.

Zum Glück musste ich solch schlimme Erfahrungen in den Kliniken nicht machen. Ganz im Gegenteil, ich fühlte mich immer ein gutes Stück weit ernstgenommen und konnte auch genesen.

Meine Eltern waren auch im Erwachsenenalter übergriffig mir gegenüber. Meine Mutter mit abwertenden, spitzen Bemerkungen, Beschimpfungen und Vorhaltungen. Sie hat, wo sie es nur konnte, versucht, mich bei meinem Mann und meinem Schwiegervater schlecht zu machen. Alles im Suff, aber nicht destoweniger wirksam. Ich hatte arg zu kämpfen. Warum, weshalb, ich hatte doch gar nichts getan?

Mein Vater dachte, er könne mir noch, als ich bereits 34 Jahre alt war, an die Wäsche gehen. Es ergab sich so, dass wir nach 20 Jahren, für eine Weile allein waren. Genau diese Gelegenheit hat er nutzen wollen. Dazu kann ich gar nichts sagen, als dass diese Menschen keinerlei Angst kennen und keinen Respekt haben.

Was die Weitergabe von Generation zu Generation anbelangt, so kann ich von mir behaupten, dass ich derlei Dinge nicht weitergegeben habe. Sicher habe ich auch Fehler gemacht, aber vor solch schwerwiegenden Dingen, habe ich mein Kind immer beschützen wollen.

Meine Mutter ist in einer guten Familie aufgewachsen. Meine Großeltern haben auch mich großgezogen. Es waren liebe Leute.

Mein Vater ist in einer sehr übergriffigen Familie aufgewachsen, das entschuldigt aber nicht sein Handeln. Er ist mit 73 Jahren noch sehr agil und ich würde kein Kind mit ihm alleine lassen. Also von Einsicht keine Spur.

Wer solchen Straftätern vergibt, ich weiß nicht, ich könnte mich nicht mehr im Spiegel ansehen.

Liebe Grüße, Lisa
Cecil
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Cecil »

Hallo Thomas,

wollte nur kurz ein Feedback geben.

Schöne Beiträge. Schön klar und verständlich auf den Punkt gebracht.

Thanx.


best wishes
Cecil
Sigrid
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Sigrid »

Lieber Werner,
ich weiß , was du meinst. Meine Wut war so groß, dass sie alle anderen Gefühle verdeckte.
Der Nachgeschmack bleibt!!
Die Wut, war aber so schlimm, dass sie mich auffraß. Heute, nach langer Therapie, geht es mir besser.
Ich habe lange mit Schuldgefühlen gekämpft, weil ich meine Mutter nicht schützen konnte.
Viel später, in der Therapie, wurde meine Wut klarer, somit konnte ich ihr begegnen. Überings auch Wut auf meine Mutter, denn sie hätte mich und meine Geschwister schützen müssen, nicht umgekehrt.
Liebe Grüße von Sigrid
Emriye2
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Emriye2 »

tomroerich
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von tomroerich »

Oh danke, Cecil

mittlerweile wird mir das Thema hier allerdings etwas heiß und ich sehe mich besonders angesichts von Geschichten wie die von Emriye und Lisa und diesem ganze Missbrauchssumpf zu sehr in Gefahr, missverstanden zu werden.

Neuere Untersuchungen ergeben absolut schockierende Zahlen. Demnach sind in Deutschland etwa 15% aller Mädchen und 6% aller Jungen von Missbrauch betroffen. Missbrauch wurde dabei definiert als "Sexuelle Handlung mit Penetration". Das ist eigentlich kaum auszuhalten. Es bedeutet, dass es in jeder Schulklasse 2-3 missbrauchte Kinder gibt und wahrscheinlich eine weitaus größere Anzahl von Kindern, dereren persönliche Grenzen massiv überschritten wurden, selbst wenn die oben gemachte Definition nicht zutrifft.
In meinen mehr als 50 Lebensjahren habe ich etwa 20 Frauen gut genug kennengelernt, um über persönliche Verhältnisse eingeweiht zu werden. Davon hatten 4 solche Erfahrungen. Meine 2. Freundin stammte aus einer kinderreichen Familie mit 3 Mädchen und 2 Jungen, in der alle 3 Mädchen vom Vater missbraucht wurden, der übrigens ein Mann der Kirche war (Missionar). Das brachte mich damals in ziemliche Konflikte, weil ich den Mann eigentlich anzeigen wollte, es aber nicht durfte, weil die Familie dann ganz sicher in Not geraten wäre. Jahre später erledigte das dann einer der Brüder.
In einem Fall läuft das ähnlich wie bei Lisa, dass der Vater noch seine erwachsene Tochter angehen will und es so begründet, dass sie sein Eigentum sei, weil er sie ja gezeugt habe.

Nur weiß ich überhaupt nicht, was für ein Fazit man aus solchen Verhältnissen ziehen soll außer einer sicherlich fälligen Verurteilung der Täter, womit man aber Familien zerstören würde. Das Ganze ist völlig verfahren und verrückt.

Viele Grüße von

Thomas
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otterchen
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von otterchen »

Hallo,
bitte jetzt nicht falsch verstehen... aber das Thema Missbrauch wird anscheinend vorwiegend nur "akzeptiert", wenn es sich um sexuellen Missbrauch handelt??

Was ist mit psychischem und physischem Missbrauch? In meinem Kopf entsteht dann schnell der Eindruck *ist ja nicht so schlimm*. Was ich sagen will: spricht man von Missbrauch, wird man erschreckt angesehen: was, SM?? Wenn man dann antwortet *nein*, ist das Gegenüber direkt *beruhigt*.

Kann es sein, das die Menschen besonders betroffen sind, wenn es sich um SM handelt und sich gar nicht so recht vorstellen können, was ansonsten Kindern noch angetan werden kann???

Bitte entschuldigt, aber ich habe den Eindruck, dass meine Gefühle/Probleme ernster genommen würden, wenn tatsächlich ein SM stattgefunden hätte. Ich habe ja *nur* unter anderen Missbrauchsformen gelitten...

Ich möchte jetzt ausdrücklich niemanden damit angreifen... vielleicht nur etwas zum Nachdenken anregen
mein gelerntes Sammelsurium: https://otterchenblog.wordpress.com/
Emriye2
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Emriye2 »

Emriye2
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Emriye2 »

Lisa23

Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von Lisa23 »

Hallo Otterchen,

nur zum Verständnis, bei mir war es Missbrauch auf der ganzen Linie. Die alkoholkranke Mutter, die mich psychisch fertig machte und meinem Körper alle Kraft raubte.

Der Vater ebenfalls ein Tyrann, Choleriker und Kinderschänder. Das letztere nicht nur in meinem Fall, sondern auch ein Cousin von mir wurde sein Opfer. Wer noch alles, entzieht sich meiner Kenntnis, aber ich denke, wir waren keine Einzelfälle. Da ich meinen Vater aber nur als Ferienvater kannte, hatte ich schon immer wenig Kontakt zu seinem privaten Umfeld.

Die Familie hat oft geschwiegen, genau aus den Gründen, die schon erwähnt wurden. Es wäre eine Familie zerstört worden. Finanziell ruiniert. Als die Sache mit mir geschah, war mein Vater in 2. Ehe verheiratet. Als ich endlich sprechen wollte und es auch konnte, war er bereits in 3. Ehe verheiratet und hatte einen weiteren Sohn aus dieser Ehe. Aus Rücksicht auf die 3. Ehefrau und den kleinen Halbbruder habe ich wieder nichts gesagt.

@ Thomas
Wer die Seiten von Alice Miller liest, kann genau erkennen, dass es sich um die wirklich schweren Fälle handelt, über die sie berichtet. In solchen Fällen noch von Vergebung zu sprechen, grenzt für mich schon an Zynismuss.

Damit will ich all die anderen Grausamkeiten, die kleinen Kinderseelen angetan werden, nicht verniedlichen. Jeder Klaps auf den Po, ist einer zuviel. Jede Stunde der ungewissen Einsamkeit, ist grobe Vernachlässigung usw.

Trotzdem, eine tobende, volltrunkene Mutter, tagtäglich über alle Jahre der Kindheit hinaus, das ist Straflager. Das kombiniert mit dem o.e. Vater ist die Hölle auf Erden.

Da kann man dann wirklich nur noch mit den Bibelworten sagen, Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Ein Menschlein, wie ich, kann da nicht mehr vergeben. Dafür bin ich viel zu klein.

Liebe Grüße, Lisa
otterchen
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Re: Die Falle der Vergebung

Beitrag von otterchen »

Hallo Lisa, hallo Emriye,

bitte entschuldige, ich glaub, ich hab nicht die richtigen Worte getroffen.
Natürlich ist es... (*nach Worten ring*)... das schlimmste überhaupt, wenn psychischer und physischer Missbrauch vorliegt IN KOMBINATION mit SM und mit Alkoholismus!

Bei mir war es jedoch *nur* ps/ph Missbrauch, und ich habe irgendwie das Gefühl, dass dies oftmals dem SM gegenüber in den Hintergrund gestellt wird.
Ich ringe gerade nach Worten, merke, wie schwer mir das fällt, das auszudrücken, was ich meine.

Eigentlich ziele ich in erster Linie auf die *Umwelt*, also die Nicht-Betroffenen. Ich glaube, die Leute hier im Forum können sowas eh in der Regel besser differenzieren!

Um den Bogen zum Thema des Threads wieder zurück zu schlagen:
ich hatte so manches mal das Gefühl, meine Umwelt würde den Kontaktabbruch von mir zu meinem Elternhaus besser nachvollziehen können, wenn dort SM stattgefunden hätte. Da dies aber nicht der Fall war, schlägt mir oftmals schieres Unverständnis (milde ausgedrückt) entgegen.

Ich wünsche mir für jeden einzelnen von uns, dass wir dieses Thema eines Tages wirklich loslassen können, auf welche Weise auch immer.

Ich hab eh im Moment das Gefühl, dass meine Beiträge irgendwie deplaziert sind, ich glaub, ich lass es im Moment besser
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